Zum Zölibat

Liberalisierung

Andi Nopilas

„Das Gelübde der Keuschheit ist das Versprechen, das weiseste und wichtigste der göttlichen Gesetze ständig zu übertreten“, urteilte der französische Aufklärer Denis Diderot in seinem posthum 1792 veröffentlichten Roman „Die Nonne“. Allgemein versteht man unter Keuschheit eine religiös motivierte Zurückhaltung in Sachen Sexualität.

Für Priester gilt der Zölibat – ein ähnliches, aber weiterreichendes Gelübde, nämlich das der Ehelosigkeit. Dieses Versprechen von (zumindest äußerer) Enthaltsamkeit währt im größten Teil der Römisch-Katholischen Kirche seit fast 950 Jahren. Ein knappes Vierteljahrtausend nach Diderot breitet sich bei Kirchenoberen allerdings gerade der kühne Gedanke aus, dass „Sexualität zum Menschen gehört“. Der das bemerkt, ist Kardinal Reinhard Marx. Natürlich sollte er sich darin eigentlich nur in der grauen Theorie auskennen, ahnt aber: „Das geht auch nie vorüber.“

Herr Marx, der wegen der Missbrauchsfälle in seiner Münchner Diözese von selbst produzierten Schlagzeilen mit zur Schau gestellter Reformoffenheit gewiss mehr profitiert als von jenen, die er lieber nicht läse, wendet sich dabei aber nicht grundsätzlich gegen den Zölibat, sondern nur gegen die Pflicht dazu. Der Priester solle auswählen können – denn für manche sei die Heirat besser, „nicht nur aus sexuellen Gründen, sondern weil manche nicht einsam wären“. Was immerhin für die gilt, die ihr Versprechen ernst nehmen.

Für die anderen wäre ein Blick zum Judentum hilfreich, das es nämlich wie Diderot hält. Die körperliche Liebe gehört für Juden zu den größten Gottesgeschenken, die zu übergehen eine Sünde bedeutet. Also mehr oder weniger das gerade Gegenteil.

Nun ist es müßig, einer Organisation Reformen anzutragen, der man selbst nicht angehört und deren Irrationalität man nicht nur nicht teilt, sondern sogar für mitverantwortlich für gesellschaftliche Ungleichheit, verantwortungsnegierende Jenseitsbezogenheit und schädliches Eiferertum hält. Denn schafft sie es, sich gesellschaftlich fortan überzeugender und breiter aufzustellen, indem sie 250 Jahre nach der Aufklärung so etwas wie die Moderne einziehen lässt, verbessert die Kirche ihre Überlebenschancen und ihren Wunsch nach Verhinderung gesellschaftlichen Fortschritts. Dass selbst unter deren Mitgliedern kaum jemand noch ernsthaft an Gott glaubt, hilft auch nicht: Schließlich glauben die Menschen seitdem nicht etwa an nichts, sondern an alles.

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"Liberalisierung", UZ vom 11. Februar 2022



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