Gespräch mit einem Corona-Spaziergänger in Leipzig

Liberale Laschheit

Paul Dimmel

Am 21. Januar berichtete unser Autor Paul Dimmel von den Coronaprotesten in Leipzig unter dem Titel „Über das Scheitern“. Er hat sich bei den letzten Spaziergängern unter Demonstranten und Gegendemonstranten gemischt und einen Erfahrungsbericht erstellt.

Leipzig Augustusplatz 18 Uhr, 31.01.2022, vor dem Ei des Finanzkapitals („Demokratieglocke“) bei Schneeregen: 20 SPD/Grüne mit Transparenten, Redner aus dem selben Spektrum sowie 50 schwarz vermummte „Antifas“ – größtenteils Jugendliche, manche noch in der späten Pubertät. Die Linkspartei-Platznehmer sollen anderswo in Leipzig „Haltung gezeigt“ haben.

Zwei von den Jugendlichen rennen angespannt auf die andere Seite der Kundgebung, nachdem sie danach gefragt wurden, wo denn die „Querleute“ seien, ziehen ihre Quarzhandschuhe an und starren misstrauisch zum Fragenden herüber. 18:15 Uhr ziehen 30 Antifas in die Einkaufsmeile, gefolgt von zwei Mannschaftswagen und zwei Trupps Polizei – scheint wie ein Gegen-“Spaziergang“ gemeint zu sein, um sich eine Stelle zum Blockieren des eigentlichen Spaziergangs zu suchen, der über den „Telegram“-Kanal der Freien Sachsen koordiniert wurde.

Dieser Spaziergang besteht ebenfalls aus 30 Leuten, die insgesamt verschüchtert um sich schauend, aber stoisch mit Abstand durch die Meile um 18:30 Uhr losspazieren. Daneben und dahinter Polizei, die an bestimmten Punkten Posten stationiert. Ab und zu ein paar Antifagrüppchen, die am Spazierzug vorbei laufen und wieder verschwinden. Die Polizei schaut, dass keine Kollisionen zwischen den Gruppen entstehen. Keine Reden, keine Fahnen, keine Transparente.

Ein interessiert schauender Mitspaziergänger Mitte 30, angesprochen darauf, dass man von der Kommunistischen Partei sei und einige Fragen hätte, ist ehrlich erfreut und betont, dass jeder hier willkommen sei, weil man mit allen im Gespräch bleiben möchte – eine Spitze gegen das moralische Auftreten von Bündnissen wie Leipzig nimmt Platz. Gegen Legida habe er aus ostdeutsch anerzogenem Geschichtsbewusstsein noch selbst beim Bündnis mitdemonstriert, seit deren Corona-Positionierungen sei er aber schwer verärgert von den dortigen Äußerungen und gehe nun wegen seiner Arbeitslosigkeit auf die Straße.

Diese sei nur durch die überzogene und „totalitäre“ Corona-Politik der Regierung und nicht durch das gesetzmäßige Totschlagen des Kleinbürgertums durch den Exekutivausschuss des Finanzkapitals verursacht. Das Corona-Durchschnittstodesalter liege doch bei 82 Jahren, viele der ausgewiesenen Toten seien fälschlicherweise als Corona-Tote gekennzeichnet und in seinem persönlichen Umfeld seien sogar drei Menschen nach einer mRNA-Impfung gestorben, obwohl er die jeweils dort ausgewiesenen Todesursachen nicht nachverfolgt habe.

Dazu stellt er sich als „libertärer“ Russland- und friedensfreundlicher, aber China-, DDR- und Zentralismusablehnender Linksparteiwähler vor, der von der Linken wegen ihrer Postenjagd enttäuscht ist – eigentlich ein klassisch sozialliberales FDP-Ideologie-Profil, den die Linke lange binden konnte und Kleinbürger durch und durch: Nach über fünf Jahren Jura abgebrochen, was ihm peinlich ist und wo er die Gründe nicht in den Auslesemechanismen der Monopolbourgeoisie-Vertreter sieht, sondern im eigenen Versagen, obwohl er die Bourgeoisie und ihre Agenten durchaus kritisch bis zur selbst so genannten „Verschwörungstheorie“ kennzeichnet.

Ähnlich hauptsächlich ideologisch belastend empfindet er die eigene Arbeitslosigkeit nach einer neuen abgeschlossenen Ausbildung und aufgenommenen und dann wieder verlorenen Berufstätigkeit sowie das eigene aktuelle „Rum-Assen“, ohne materiell größere Ängste zu haben. Er habe viel Energie, welche er gerne verwenden würde, lese extrem viel Geschichtliches, verfolge Widersprüchlichkeiten und misstrauisch machende Zufälle im Umgang mit der Corona-Pandemie und fühle sich durch den Lockdown erst im Home Office und dann als Arbeitsloser als „Sklave“.

Trotz antifaschistischer Überzeugung findet er ok, dass NPD- und Pro-Chemnitz-Mitglieder die Freien Sachsen leiten, in deren Kanal die meisten der Spaziergänge koordiniert werden. Er könne ja wohl selbst denken, sei ein mündiger Erwachsener und so lange keiner faschistische Äußerungen tätigt, könnte da seinetwegen jeder mitspazieren.

Eine sich aus dem kleinbürgerlichen Standpunkt ergebende liberale Laschheit gegenüber auf militärische Machteroberung zielenden Faschisten, sollten diese in der BRD nochmal irgendwo größere Gruppierungen mit faschistischen Inhalt anführen – aber wahrscheinlich verallgemeinerungsfähig für viele Spaziergänger und Indiz dafür, dass mit diesen zwar kein kommunistischer Klassenkampf, aber eben auch kein imperialistischer Krieg und KZ-Aufbau zu machen ist.

Die Forderungen nach dem „Schutz der Grundrechte“ sind dem entsprechend ebenso lasch und bieten wenig Anknüpfungspunkte für Klassenkämpfe auf mindestens gewerkschaftlichem Niveau und noch weniger für eine kommunistische Revolutionierung der Massenbeteiligung am staatlichen und wirtschaftlichen Geschehen – wahrscheinlich ebenfalls verallgemeinerbar für alle Corona-Proteste, trotz Ungewöhnlichkeit dieser komplex zusammengesetzten Persönlichkeit.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.



UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
Unsere Zeit