2020 – Von lauten Janas und stillem Rotwein

Leute, Leute.

Hömma, 2020, ich träumte, du wärest ein nices Jahr gewesen. Mit Rotkehlchen im Frühling, Sonne im Sommer, Steinpilzen im Herbst und knackig im Winter. Reichsbürger und Nazis hätten eine Schlappe nach der anderen erlitten, die AfD wäre zerstritten und zerstreut. Die Polizei hätte das ganze braune Pack entlassen und die Bundeswehr eine neue Losung gefeiert: „Karaffen statt Waffen“. Eine lustige, auch charmante, sagen wir N., hätte ich kennengelernt, zum gemeinsamen Abbau überflüssiger Pfunde und anderen Dingen, die schön sind. Dem Gartenbro würde es gut gehen, die Mutter wäre quietschgesund und der neuseeländische Baumfäller hätte nicht den übelsten Fehler seines Lebens gemacht. Außer dem schwarzgelben, welches mich nie so ganz loslässt, kein Virus weit und breit und der Begriff „Covid 19“ aus einer anderen Galaxie. Herbert Feuerstein würde mit Karl Dall Klamauk machen, Maradona feiern wie eh und je, Birol Ünel und Sean Connery duellierten sich im Cool-sein im Kino und hinter der Kamera grinste schelmisch Monty-Pythons Terry Jones. Donald Trump wäre – nach einer klaren Niederlage – demütig auf die Knie gegangen und Ursula von der Leyen schlichtweg nicht existent. Letztendlich hätten sich noch die „Grünen“ aufgelöst, gescheitert an ein paar Dutzend mutigen Jugendlichen, die den Dannenröder Forst gegen eine total absurde Autobahn verteidigt haben. Und Konzerte hätte ich gesehen und erlebt wie schon lange nicht mehr im Leben. Verschwitzt, ausgelassen, mit Tanzen und Singen und angeschickerten Umarmungen. Was für eine schöne Vorstellung. Leute, Leute.

Ich wachte auf. Die charmante N. verpuffte, lustig wie sie gewesen war, mit einem „Plöpp“ ins Paradies und als erstes erblickte ich einen vollen Aschenbecher und einen Stapel Mund-Nasen-Schutz-Tücher. Draußen rabenschwarze Nacht, was wohl auch daran lag, dass es Nacht war. Genauer gesagt: Samstagmorgen, 5:10 Uhr. Einen mittelschweren Hustenanfall später dämmerte es mir: 2020, du bist echt. Immer noch! Verdammt.

Und sonst? Tolle Post bekomme ich manchmal, hier in Form einer UZ-Shop-Bestellung. Unterschrieben mit „Gegen den Faschismus. Rette sich wer kann.“ Krasse Taktik. Da bleibt selbst mir die Spucke aus. Und das will was meinen. Passiert aber doch schon mal, wie bei der „Jana aus Kassel“, die sich auf einer „Querdenker“-Demonstration mit Sophie Scholl verglich. Weil sie ja „auch im Widerstand ist“. Sie verteilt „auch Flugblätter und meldet Demonstrationen an“. Joa. Da kann man nur hoffen, dass die Geschichtslehrerin der guten Jana aus Kassel mindestens den Dienst quittiert, bestenfalls sogar der örtlichen Antifa aus bloßer Scham Haus und Hof überschreibt. So viel unverschämte Dummheit auf einer Bühne, schwerst gruselig. Und als „Jana“ von einem Ordner auf ihren Schwachsinn angesprochen wird, fängt sie auch noch an zu heulen. Wie einst Sophie Scholl sicherlich. Nicht! Leute, Leute.

2020, das war auch der rassistische Polizeimord an George Floyd. Sein immer wieder flehentliches „I can‘t breath“ („Ich kann nicht atmen“) ging um die Welt und brachte eine sehenswerte Welle in Gang. Allerdings, wie immer bei solchen Protestaktionen, war es eine kurze Welle, hoch zwar, aber kurz. Waren auf der ersten Dortmunder Demo gegen Rassismus noch Tausende, verliefen sich bei der zweiten vielleicht 300 Menschen. Man vergisst eben schnell, wenn man selber satt und weiß ist. Isso.

Worte. Einen wundervollen Begriff fand ich in einem Fußballforum, in dem auch über „Querdenker“ und Impfgegner diskutiert wurde. Ein Nutzer nannte diese Gesellen „kognitiv teilmöbliert“. Nachdem ich aufgehört hatte, zu lachen, säuberte ich meine Tastatur von draufgespucktem Espresso. Solche seltenen verbalen Volltreffer darf man nicht platzieren, wenn ich gerade was trinke. Kognitiv teilmöbliert! Leute, Leute.

Mein Gartenverein drängelt mich derweil zur Eile in meiner neuen Gemeinschaftsarbeit, zu der ich kam wie die Jungfrau zum Tätowierer. Ich soll doch wacker alle weiteren 378 Gärten abklappern, um die Wasseruhren abzulesen. Was nach einem lässigen Job klingt, geht so: Bei 3 Grad in leeren fremden Gärten rumstolpern, die häufig versteckte Stahlabdeckung unter nassem Laub am Boden suchen, jene welche irgendwie hochwuchten, nur um zu entdecken, dass die Uhren beschlagen, also von oben nicht lesbar sind. Zu den Kakerlaken, Schnecken, Spinnen und anderen Bonsai-Monstern hinabsteigen, Uhren ablesen und sich dann Gedanken machen, wie man nun wieder aus dem Loch heraus kommt, ohne sich komplett lächerlich zu machen. Toll. Dass der Verein mich dabei auch noch drängelt, ist seltsam deutsch. Weltweite Pandemie, ganze Branchen gehen kaputt, prekäres Leben hier und dort. Aber der Gartenverein XY e.V. aus Dortmund: Unsere Jahresrechnungen werden pünktlich verschickt. Und wenn es das Letzte ist, was wir tun! Der Schrebergarten – die letzte Bastion deutscher Ordnung. Ganz ehrlich? Leute, Leute.

Kurznachrichten: Den Haag: Kein Verfahren zu britischen Verbrechen im Irak. | UNO: Globale Erwärmung steuert auf mehr als 3 Grad zu. | Trotz Krieg und Virus: Union will wieder nach Syrien abschieben. | Bundestag stimmt für höheren Wehretat. | Der Rechtsextremismus im Osten wächst, vor allem bei der jüngeren Generation. | Das belgische Uralt-AKW darf weiter mit deutschen Brennelementen beliefert werden. | Airbnb stockt Aktienpreis noch mal kräftig auf. | Neue Studie: Glück ist, wenn man … | Ach hört mir doch auf. Leute, Leute.

Und jetzt auch noch: Weihnachten. Im Lockdown. Heißt eigentlich Ausgangssperre, klingt aber so irgendwie more sexy. Und die Party ohne (viel) Familie. Ich meine, ja und? Es heißt doch „stilles Fest“, oder nicht? Ein stilles Wasser, eine stille Flasche Rotwein, eine stille Gans, ein stilles Buch, eine stille, weil nicht anwesende Familie. Geht schlimmer, finde ich. Wenn das ganze nächste Jahr z. B. still bleibt. Das wäre echt stillos, unstillbar, quasi das Destillat der Weihnachtsfeierei. Und ich bin jetzt still, bevor sich noch schlechtere Wortspiele ihre Bahn brechen, und nehme einen Hustenstiller. Autsch, sorry.

Liebe Leserinnen, liebe Leser, bleibt gesund, kommt gut über die Tage und tut nichts, was ich nicht auch tun würde. Und wenn, dann wenigstens nicht so laut.

2021 wird besser, versprochen. Und dann treffen wir alle sicher bald wieder viele: Leute, Leute …

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"Leute, Leute.", UZ vom 24. Dezember 2020



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