Leserbriefe an die UZ zum „Kurzen Blick auf China“

In der UZ-Ausgabe vom 25. September warf UZ-Kolumnist Lucas Zeise einen „Kurzen Blick auf China“. Er rief damit eine Reihe von Reaktionen hervor, die nur zum Teil in der UZ abgebildet wurden. Wir dokumentieren die Kolumne und die eingegangenen Leserzuschriften an dieser Stelle, damit sie nicht verloren gehen. Wir halten die Debattenbeiträge zu Zeises Kolumne für nützlich zur Vorbereitung des Bildungsthemas 2021 zum Thema China.

Kurzer Blick auf China
Das Land hat die sozialistische Revolution noch vor sich
Kolumne von Lucas Zeise

Die Frage, wie das gegenwärtige China zu beurteilen ist, interessiert uns nicht deshalb, weil wir den chinesischen Genossinnen und Genossen Ratschläge geben wollen, wie sie ihr Land und ihren „Sozialismus“ aufbauen sollen. Sie ist für unser eigenes Selbstverständnis als Kommunisten wichtig. Unser Ziel ist die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus.

Sozialismus und Kapitalismus sind Ausdrücke für eine Produktionsweise. Was Kapitalismus ist, wissen wir ziemlich genau. Im Kern einer kapitalistischen Gesellschaft befindet sich das Kapital, das mittels der Ausbeutung der Arbeitskraft die Produktion gesellschaftlich organisiert und sich den Reichtum privat aneignet. Das Kapital selbst ist Eigentum der Klasse der Produktionsmittelbesitzer, anders gesagt, der Bourgeoisie. Sie hat im Kapitalismus definitionsgemäß die ökonomische Herrschaft inne. Im Sozialismus, wie wir ihn verstehen und ihn geschichtlich in einigen Ländern kennengelernt haben, wird zwar ebenfalls gesellschaftlich produziert, jedoch nicht privat angeeignet. Es gibt im Sozialismus zwar Gütermärkte, nicht jedoch im Prinzip einen Markt für Kapital noch einen Arbeitsmarkt.

Werfen wir nun einen Blick auf die Produktionsverhältnisse in der Volksrepublik China: Das Eigentum an den Produktionsmitteln ist immer noch zu sehr großen Teilen staatlich. Aber das Privatkapital ist seit den Reformen Ende der 1970er Jahre gewaltig gewachsen. Es wächst und akkumuliert schneller als die Staatsbetriebe. Die Tendenz geht in Richtung weniger Staat und mehr privat. Es gibt in China mittlerweile eine entwickelte Bourgeoisie und Großbourgeoisie.

Es gibt einen Kapitalmarkt in China, der sich schnell entwickelt. Es wird mit Unternehmen, Aktien, Krediten gehandelt. Zwar gibt es kein Privateigentum an Grund und Boden, aber einen blühenden Handel mit Immobilien, das heißt genauer gesagt, mit Lizenz-, Pacht- und Mietverträgen. Es gibt einen Arbeitsmarkt. Die Ware Arbeitskraft wird gekauft/gemietet, um ausgebeutet zu werden. Der Warenverkehr mit dem Ausland ist weitgehend liberalisiert. Es gibt noch Kapitalverkehrskontrollen. Der Kurs der chinesischen Währung wird wesentlich von der Zentralbank bestimmt. Kapitalimport und -export sollen erklärtermaßen weiter liberalisiert werden.

Die – zugegeben sehr grobkörnige – Betrachtung der Gesamtheit der Produktionsverhältnisse in China führt zu dem Schluss, dass das Land ein kapitalistisches Land ist. Wie in jedem Land hat der Kapitalismus in China seine Besonderheiten. Sie hängen hier mit seiner sozialistischen Vergangenheit zusammen. Der relativ hohe Anteil des Staates an den Produktionsmitteln, das fehlende Privateigentum an Grund und Boden, die enge Kontrolle über die Banken und eine gewisse Kontrolle über Kapitaleinfuhr und -ausfuhr sind aus sozialistischen Zeiten überkommene Vorteile. Auch in anderen kapitalistischen Ländern gab es diese Eigenheiten. Es ermöglichte diesen Ländern eine effektivere staatsmonopolistische Steuerung durch den Staat. Aber sozialistisch waren diese Länder deshalb nicht und ist auch China nicht.

Man kann versuchen, die Frage zu umgehen, ob China ein sozialistisches Land ist oder nicht. Etwa mit der vorläufigen Antwort, dass dieses Land von einer Partei „mit sozialistischer Orientierung“ regiert wird. Die Kommunistische Partei der Volksrepublik wählt offensichtlich derzeit eine solche Lösung. Aber sie lässt die Frage offen, wie, ja sogar, ob der gegenwärtige Zustand des Kapitalismus in Sozialismus umgewandelt werden kann. Nach allem, was wir über Klassengesellschaften wissen, wird sich auch die chinesische Großbourgeoisie nicht kampflos aus ihrer Position als ökonomisch herrschende Klasse zurückziehen. Auf dem Weg zum Sozialismus hat also auch China die Revolution noch vor sich.

Leserbriefe zur Kolumne von Lucas Zeise „Kurzer Blick auf China“, UZ vom 25. September (in alphabetischer Reihenfolge der Autoren)

Siegfried Alt, Berlin
Lucas Zeises Position zu China ist Ausdruck der eurozentristischen, dem traditionellen Sozialismus verhafteten Orientierung innerhalb der westlichen Kommunisten, die schon Losurdo vor 20 Jahren kritisierte. Während der Imperialismus verstärkt an der Einkreisung Chinas arbeitet, leisten sich einzelne Kommunisten den Luxus oberflächlicher, wenig interessierter, „kurzer“ Analysen, in denen sie China das Etikett „kapitalistisch“ oder gar „imperialistisch“ anheften. Die Farce wird zur Tragödie, schrieb Losurdo, da die westlichen Kommunisten in der nun begonnenen, historischen Entscheidungsschlacht zwischen dem sozialistischen China und dem Imperialismus auf der falschen Seite der Barrikade stehen.

Alles, was Zeise anspricht, ist in China bereits diskutiert worden. Es gibt keine Bourgeoisie als Klasse, geschweige denn eine, die ökonomisch herrschen würde, es gibt Kapitalisten, die aber nicht als Klasse organisiert sind. Es gibt eine kommunistische Partei, die politisch herrscht, makroökonomisch plant und bestimmt; die auch mikroökonomisch über die Verwaltung und ihre Parteizellen Einfluss ausübt; die die Gewinne der Staats- und Kollektivbetriebe sowie die Steuern der privaten Betriebe zur Stärkung des Staates nutzt, wie auch zur Beseitigung der Armut und zur Hebung des allgemeinen Wohlstandes. Und selbstverständlich lässt die KP die Frage nicht offen, ob „der gegenwärtige Zustand des Kapitalismus in Sozialismus umgewandelt werden kann“. Man merkt, dass Zeise, wie alle linken Kritiker Chinas, sich nicht die Mühe macht, die Parteidokumente zu studieren, in denen China als ein Land definiert wird, das sich in einem ersten, einem Anfangsstadium des Sozialismus befindet. Erst ab 2049 wird es in ein mittleres Stadium eintreten. Die Joint Venture-Verträge sind bis dahin terminiert. Und nein, China benötigt keine zweite sozialistische Revolution, der Klassenkampf ist nicht das entscheidende Kettenglied, sondern die Entwicklung der Produktivkräfte.

Thomas Allwin, per E-Mail
Es stellt sich in jedem Land für Kommunisten die Frage, was sie denn unter einem Sozialismus unter den jeweiligen nationalen Besonderheiten verstehen und wie Wege zum Sozialismus perspektivisch unter dem existierenden weltweiten Kräfteverhältnis errungen werden kann.

Das neue China hat turbulente Zeiten hinter sich, wie diese sich u.a. im Irrweg der Kulturrevolution manifestierten. Nach meiner Erkenntnis hat die KP Chinas nicht nur wichtige Schlüsse aus eigenen Fehlern sondern auch aus Fehlern anderer ehemals sozialistischer Länder insbesondere der Sowjetunion gezogen. Eine mechanistische Sicht, wie diese von Lucas Zeise vertreten wird, ist da m.E. wenig hilfreich.

Es macht ja auch nach einer Revolution nicht „Klick“ und dann ist es vollendeter Sozialismus. Die KP Chinas beschreibt ja selbst die augenblickliche Phase als eine allererste Phase eines Sozialismus mit Chinesischen Charakteristika mit der Perspektive den Sozialismus auf eine höhere Stufe zu heben. (die letzten Parteitage drücken das aus) Im augenblicklichen Status, der ersten Phase des sozialistischen Aufbaus, hat China immer noch verschiedene Klassen.
Die Frage, was augenblicklich der Hauptwiderspruch ist, den die Chinesische KP  überwinden muss, kann ich hier nur offen lassen.

Jedoch beschreibt sie die Richtung etwa so. Es geht ihr um den  

   • Aufbau einer sozialistischen Marktwirtschaft
       ◦ Kombination der Marktwirtschaft mit der zentralen Planung
       ◦ Gewährung des privaten Eigentums an Produktionsmitteln als zusätzlicher Eigentumsform zum Kollektiveigentum
   • … aber Bewahrung der ökonomischen Kernprinzipien eines sozialistischen Staates.
       ◦ Nur der Staat kann Landbesitz übereignen/übertragen. Privatpersonen und private Unternehmen können die Rechte an Grund und Boden nur bis zu 70Jahren erhalten. (Jetzt können Privatpersonen Land kaufen)
       ◦ Wesentlich ist, dass Staatseigene Unternehmen die Regularien der Ökonomie dominieren.

Die wesentliche Industrie ist in staatlicher Hand: Energiewirtschaft, Finanzwesen (Banking), (Utilities), Transport, Armee, Metalle, Chemie, Schiffsbau, Telekommunikation, Gesundheitswesen, Kommunikation

Die nationale Bourgeoisie hat keinen nennenswerten Einfluss auf die zentrale Politik. Die Gefahr, dass  die Bourgeoisie die vollständige Macht erobert, kann schon durch dadurch widerlegt werden, dass ihre Vertreter nur auf unterster Ebene Funktionen ausüben. Wichtige Bestandteile der Parteitagsbeschlüsse sind der Kampf gegen Korruption und die Armutsbekämpfung. Letztere gelingt durch die Möglichkeit der Landarbeiter private Geschäfte zu machen, welche aber in die gesamtgesellschaftliche Planung eingebettet sind, außerordentlich gut.

Ferner: Am Prinzip Aufrechterhaltung der Diktatur der Volksdemokratie wir festgehalten. Als Gorbatschow die Reagans, die Chicago Boys usw. umarmt hat um den sowjetischen Sozialismus mit den westlichen „Demokratievorstellungen“ zu in-kooperieren, war es zu spät. Und dann kam Jelzin in den die US-Strategen Millionen von $ investierten. Und das versucht China zu verhindern.

Was wäre mit China passiert, wenn sie nicht die Prinzipien der Diktatur der Volksherrschaft angewendet hätten? Warum sollen diese Prinzipien kapitalistischer Natur sein ? Warum muß Planwirtschaft mit marktwirtschaftlichen Elementen den Weg zu einer nächsten Phase des Sozialismus versperren ?

Harald Bauer, per E-Mail
Was gilt denn nun? 

Kurz gesagt: Lucas Zeise kommt zum Schluss, dass in China der Kapitalismus wiederhergestellt wurde und eine neue sozialistische Revolution nötig sei. Diese 
Ansicht unterscheidet sich von der bisherigen Position der DKP-Parteiführung, die China als sozialistisch einschätzte. Was gilt denn nun? Oder ist die UZ jetzt ein Diskussionsorgan? 

Markus Bernd, Eschborn
Liebes Redaktionskollektiv, vielen Dank für diesen Beitrag!

Der Genosse Zeise spricht hier die Themen an, die in unserer China-Debatte meist leider viel zu kurz kommen: die Klassenfrage, die Eigentumsverhältnisse, die beherrschende Stellung des Plans statt des Marktes in der Wirtschaft.

Die sozialistischen Elemente schätzt er, meiner Meinung nach richtig, als Überbleibsel des sozialistischen Aufbaus und nicht als Beleg für den sozialistischen Charakter des heutigen Chinas ein. Gleichzeitig lässt er die Perspektive für den Sozialismus und die Kommunistische Partei offen, ohne in die bürgerliche Argumentation eines „imperialistischen Chinas“ zu verfallen.

Der Beitrag ist trotz deiner Kürze eine erfrischende Alternative zu den Reiseberichten und der wortgetreuen Widergabe „parteichinesischer“ Pressemitteilungen. Wenn wir die Debatte schon führen müssen, dann doch derart fundiert. Wir würden alle davon profitieren.

Thomas Boomgarden, per E-Mail
Das theoretische System des chinesischen Sozialismus ist das jüngste Ergebnis der Sinisierung des Marxismus und es umfasst die Deng-Xiaoping-Theorie, die wichtigen Ideen der Drei Vertretungen und das Wissenschaftliche Entwicklungskonzept; zusammen mit dem Marxismus-Leninismus und den Mao-Zedong-Ideen setzt es Beibehaltung und Entwicklung, Erbe und Erneuerung zueinander in Beziehung. Der Marxismus-Leninismus und die Mao-Zedong-Ideen dürfen keinesfalls aufgegeben werden – ansonsten würde ein Verlust des Wesentlichen drohen. Zugleich müssen wir uns unbedingt auf die realen Probleme bei der Reform und Öffnung sowie der Modernisierung unseres Landes sowie unsere aktuelle Agenda konzentrieren und unser Augenmerk auf die Anwendung der marxistischen Theorie, theoretische Überlegungen zu realen Problemen sowie neue Praxis und neue Entwicklungen richten. Die Beibehaltung des theoretischen Systems des chinesischen Sozialismus im gegenwärtigen China bedeutet wahres Festhalten am Marxismus.
China befindet sich im Anfangsstadium des Sozialismus.

Der chinesische Sozialismus ist reiner Sozialismus und kein anderes System. Der Sozialismus chinesischer Prägung ist der notwendige Weg für die umfassende Vollendung einer Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand, das schnelle Voranschreiten der sozialistischen Modernisierung und die Verwirklichung der großen Renaissance der chinesischen Nation. Der Aufbau des Sozialismus unter der Führung der Partei lässt sich in zwei historische Zeitphasen gliedern – nämlich die Phase vor und die Phase nach der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik im Jahre 1978. Diese beiden Phasen sind eng miteinander verbunden, aber zugleich auch ganz unterschiedlich. Der chinesische Sozialismus wurde eingeleitet nach dem Beginn der Reform und Öffnung und er basiert auf der mehr als zwanzigjährigen Entwicklung seit der Einführung des sozialistischen Systems im Jahre 1956. Zwar weisen die beiden historischen Zeitphasen beim Aufbau des Sozialismus große Unterschiede auf in ihren Leitgedanken, Richtlinien und politischen Maßnahmen sowie in der praktischen Arbeit, aber sie sind auf keinen Fall getrennt, geschweige denn gegensätzlich. Wir dürfen nicht die historische Zeitphase vor der Reform und Öffnung mit derjenigen danach verneinen, und auch nicht umgekehrt.
Der Sozialismus chinesischer Prägung ist die sozialistische Marktwirtschaft.
(Zitate aus dem Buch: Xi Jinping, China regieren).

Gerade in Zeiten eines globalen aggressiven anti-chinesischen Rassismus forciert durch die Trump- Agenda und des Versuchs einer schändlichen, aber erfolglosen Diskreditierung der KP Chinas sollten wir unsere Solidarität mit den Genoss*innen Chinas ausdrücken und nicht den Feinden Chinas das Wort reden. Keine andere Partei in diesem Staat entlarvt die anti-russische und anti-chinesische Hysterie so wissenschaftlich fundiert wie die DKP.

Christel Buchinger Medelsheim
Der Autor eröffnet seinen Artikel mit dem Hinweis, dass „wir den chinesischen Genossinnen und Genossen keine Ratschläge erteilen wollen“. Damit gibt er sich selber die Absolution, einen Artikel so von oben herab zu schreiben, dass man nur hoffen kann, dass die chinesischen Genossinnen und Genossen ihn nicht zu lesen bekommen, man müsste sich dann schämen. Natürlich ist es nicht möglich, in einem Dreispalter im Keller die Frage zu klären, ob in China Kommunismus herrsche oder nicht. Und so versucht Lucas Zeise es eigentlich auch gar nicht. Die staatlichen Anteile an den Eigentumsverhältnissen tut er damit ab, dies seien Überreste der ehemals sozialistischen Verfasstheit und dass solches ja auch in kapitalistischen Ländern schon vorgekommen sei. Ach ja? In welchem kapitalistischen -staatsmonopolistischen – Land war das Eigentum an Grund und Boden und allen Naturschätzen gesellschaftlich? In einigen Staaten der Sowjetunion ist dies noch der Fall, aber darauf spielt er nicht an. Schlimmer aber: Seine Aufzählung kapitalistischer Momente in den Produktionsverhältnissen klammert eines aus: die Frage nach der politischen Macht, der Rolle der KP, der Arbeiterklasse, der Volksmassen. Das ist ein arger Schnitzer! Und die Frage nach der Macht, das weiß auch der Autor, ist nicht damit beantwortet, wer „das Land regiert“. Und wie kommt er darauf, dass die KP die Frage danach, in welchem Stadium der Entwicklung sich das Land befinde und wie die Herrschaftsverhältnisse sind, unbeantwortet lässt? Oder gar die Frage, „wie oder sogar ob“ der Sozialismus erreicht werden kann? Spricht dagegen die KP nicht von dem Anfangsstadium des Sozialismus, in dem die Aufgabe stehe, die Produktivkräfte umfassend zu entwickeln? Und zwar auf das höchste Niveau? Sind sie dabei nicht sehr erfolgreich? Ebenso wie bei der Bekämpfung der Armut, vor allem der absoluten! Sagt die KP nicht sehr genau, wo das Land im Jahr 2050 stehen wird? Ich wette ein Ei darauf, dass sie das schaffen! Und „derzeit findet in China die wohl umfangreichste Forschung auf dem Gebiet des Marxismus statt“, sagt ein junger Wissenschaftler in einer Arbeit, die als Broschüre bei www.rote-zeitung.de veröffentlicht wurde. Lesenswert und dem Autor anzuempfehlen!
Im Übrigen: Es ist nichts dagegen zu sagen, wenn ein Thema recht kaltschnäuzig behandelt wird – das macht der Autor öfter mal – wenn dies auf hoher Fachkenntnis und tiefem Durchdenken gründet. So wie hier tut sich der Autor keinen Gefallen damit!

Sebastian Carlens, Berlin
Lucas Zeise hat sich in der UZ vom 25. September an einer gesellschaftlichen Einordnung des chinesischen Entwicklungsmodells versucht. Genosse Zeise hat unzweifelhaft recht, wenn er erstens das Vorhandensein einer chinesischen Bourgeoisie feststellt und zweitens davon ausgeht, dass diese – wie all ihre Klassengenossen in der Welt – ein Interesse an der Absicherung ihrer Profite hat. Falsch ist die Schlussfolgerung, dass China auf dem Weg zum Sozialismus deshalb „die Revolution noch vor sich“ habe.

Das chinesische Modell, seit nunmehr 40 Jahren praktiziert, lässt privates Kapital aus dem In- wie Ausland zu, behält jedoch die Schlüsselindustrien, den Grund und Boden sowie die Bodenschätze in staatlicher Hand und ermöglicht günstige Bedingungen für genossenschaftliche Betriebe, nicht nur in der Landwirtschaft. Die bis heute andauernde Reformpolitik seit Deng Xiaoping hat tatsächlich eine neue Bourgeoisie und einen Kapitalmarkt hervorgebracht, die in Größe und Bedeutung keinen Vergleich aus der Geschichte sozialistischer Staaten kennen. Diese Verhältnisse sind in den letzten 40 Jahren juristisch und praktisch arrondiert worden und werden aller Voraussicht nach noch eine längere Zeitspanne fortbestehen (China nennt das Jahr 2050 als Ende dieser „Aufbauphase“ auf dem Weg zum Sozialismus – dies kann man glauben oder nicht).

„Das Eigentum an den Produktionsmitteln ist immer noch zu sehr großen Teilen staatlich“, so Zeise. Doch „die Tendenz geht in Richtung weniger Staat und mehr privat.“ Ein Beweis für diese Aussage bleibt er schuldig. Selbst, wenn dies nach nackten Zahlen messbar sein sollte, muss die Frage nach der Qualität gestellt werden. Welche Industrien und Sektoren sind privat, welche staatlich? Sämtliche „Kommandohöhen“, darunter Schwerindustriekombinate, Telekommunikation, der nationale Bankensektor und so weiter, sind Staatsbesitz. Das private Kapital agiert vorwiegend in „neuen“ Dienstleistungen und „leichten“ Industrien (und hat dort einige bedeutende Konzerne hervorgebracht), darüber hinaus aber in massenhafter Zahl in Klein- wie Kleinstbetrieben, in kleinbürgerlichen, oft familiengebundenen Produktionsverhältnissen. Das macht bei chinesischen Zahlen natürlich eine Menge aus, sagt jedoch wenig über die wahren Kräfteverhältnisse.

Die chinesische Wirtschaft lässt sich als gesellschaftliche Makroplanung (Fünfjahrespläne) mit marktbasierter Wirtschaft beschreiben; in ihr gibt es Kapital, staatliches und privates. „Kapitalismus“ ist es deshalb nicht, wie Zeise meint. Sozialismus bedeutet, unprosaisch gesagt, nur dies: Die Arbeiterklasse mit Verbündeten übt die Staatsgewalt aus und das gesellschaftliche Mehrprodukt fließt nicht überwiegend in private Taschen, sondern wird gesellschaftlich reinvestiert. Beides ist Realität, die Chinesen nennen dies nach wie vor die „Anfangsphase beim Aufbau des Sozialismus“. Diese Kriterien sagen natürlich wenig über den erreichten Lebensstandard, über Verteilungsgerechtigkeit und Reproduktionsmöglichkeiten der Menschen aus – sie dienen der Einordnung nach ihrer hauptsächlichen Seite, der Frage der Macht. Nicht nur nach Zahlen, sondern auch qualitativ bilden staatlicher und genossenschaftlicher Sektor, das „sozialistische Eigentum“, das Gros allen Eigentums in China. Nicht übersehen werden darf auch die Rolle des Staates (und der Partei) als Faktor im Klassenkampf „von oben“ – die Arbeitsbedingungen in Staatsbetrieben sind z. B. vielfach besser und beliebter als in der Privatwirtschaft. Angehörige der Bourgeoisie genießen keine Sonderrechte, sie sind nicht tabu für die Justiz oder die Antikorruptionskampagnen der Partei. In China lassen, so klagt unsere bürgerliche Presse, Politiker einfach so missliebige Multimilliardäre „verschwinden“. Im kapitalistischen Westen ist das umgekehrt.

Zeise ist grundsätzlich beizupflichten, wenn er annimmt, dass sich die „chinesische Großbourgeoisie nicht kampflos … zurückziehen“ wird. Sie hat aber, und das ist der Unterschied zum echten Kapitalismus, in China zwar ökonomische, aber keine politische Macht – sie ist von der Willensbildung der Regierung weitestgehend ausgeschlossen. Das ist zweifellos ein Zustand, den eine Bourgeoisie, welcher Provenienz auch immer, dauerhaft nicht akzeptieren kann. Doch die Bedingungen zur Entscheidung dieser Frage in eine progressive Richtung sind vielfach günstiger als zum Beispiel in der BRD: Der Staatsapparat muss nicht mehr erobert werden, eine Revolution ist gerade nicht nötig. Die Frage, „wer wen besiegt“, ist damit zwar positiv beeinflusst, aber noch lange nicht entschieden – sie kann es auch nie sein, solange es ein imperialistisches Weltsystem gibt; das wissen wir aus eigener leidvoller Erfahrung.

Die Stellung zur VR China ist aktuell nicht der Prüfstein für Kommunisten in der BRD. Selbst, wenn das Land kapitalistisch wäre, müsste der Kampf gegen die imperialistische Aggressionspolitik des Westens unsere Tagesaufgabe sein und damit auch die Verteidigung der Souveränität Chinas. Genosse Zeises Irrtum in der Einordnung der chinesischen Gesellschaft ändert daher praktisch zunächst nicht viel. Wenn er gar als Einstieg in eine notwendige Debatte dient – und wir besser verstehen lernen, dass „Entwicklungsländer“ wie China (und 1917 auch Russland) eine ganze Reihe eigentlich bürgerlicher Aufgaben nachzuholen und dafür einen hohen Preis zu entrichten haben, dass sie die primäre Akkumulation quasi in die eigene Hand nehmen müssen, bevor die Basis für einen entwickelten Sozialismus errichtet werden kann, und dass es dafür leider keinen bequemen Standardpfad gibt – dann war er nützlich.

Helmut Dunkhase, Berlin
Welche Argumente bringen die Zeise-Kritiker vor?

  1. Die Verlautbarungen der chinesischen Staats- und Parteiführung. Schön. Wenn dem so wäre, würden wir vielleicht gerade erleben, dass Egon Krenz mit allen Ehren als Staatsratsvorsitzender verabschiedet wird und die hoch überlegene Sowjetunion gerade dabei ist, mit solaren Energiestationen im Orbit das Energieproblem der Menschheit zu lösen.
  2. Die hohen Wachstumsraten und das damit verbundene Herausführen von Millionen aus Armut und Not. Das sind Fakten. Sie können mit kommunistischen Produktionsweisen verbunden sein (wie das Beispiel der Sowjetunion unter Stalin zeigt), müssen aber nicht: Japans Zuwachsraten der Nachkriegszeit (mit der Lenkung durch das staatliche MITI-Institut) lagen häufig über 10 % . Auch das „Wirtschaftswunder“ in der BRD zeigte Wachstumsraten bis zu 10,5 %, bevor es ab den 1960er Jahren abflachte und heute vor sich hindümpelt. Dies scheint eine gesetzmäßige Entwicklung von einer Ökonomie im Aufbau oder Wiederaufbau bis zum Erreichen eines reifen Stadiums zu sein, die auch um China keinen Bogen machen wird.

Marx hat das schöne Wort vom „innersten Geheimnis der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion“ gewählt, die auf der Art und Weise der Extraktion des Mehrprodukts beruhe. Entweder die Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit über einen gesellschaftlichen Plan oder der umgekehrte Mechanismus der Aneignung durch private Agenten, in der nach der Aufteilung in Löhne und Profite die Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit als Effekt zweiter Ordnung erscheint. In diesem Sinne ist in der Stalin-Zeit die Art und Weise der Extraktion des Mehrprodukts der kommunistischen Produktionsweise bisher am nächsten gekommen, während China die umgekehrte Richtung wählt. Die als Parallele herangezogene NÖP hatte als Ziel letztlich die Stärkung der staatlichen Industrie und musste beendet werden, als die Widersprüche auf dem Lande zu groß wurden, hatte also entgegengesetzte Ziele.

Was die Diskussion über die Entwicklung der Volksrepublik so brisant macht, ist nicht, ob wir uns eine Schiedsrichterrolle anmaßen, sondern wie sie unsere eigenen strategischen und konzeptuellen Überlegungen beeinflusst. Zeises Kritiker befördern eine Tendenz, die in unserer Partei virulent ist, obwohl sie kaum (bzw. ist es ziemlich lange her, dass sie) wirklich diskutiert wurde: Der künftige Sozialismus kann nichts anderes sein als irgendeine Melange aus Plan und Markt, sozialistische Marktwirtschaft, o. ä. Ich halte das für falsch.

Ich nehme mit Genugtuung die positive geopolitische Rolle Chinas wahr, doch ein Vorbild für eine Entwicklung zum Sozialismus kann es nicht sein. Leider.

Wolfram Elsner, per E-Mail
Der Beitrag geht m.E. an der Sache vorbei. Die chinesische Führung behauptet ja nicht, dass bereits ein vollständig ausgebildeter Sozialismus in China existiert, sondern dass man gerade in ein „Frühstadium des Sozialismus“ eingetreten ist. Es geht also nicht um einen Schwarz-Weiß-Abgleich gegen einen idealen „Sozialismus“, wie wir ihn aus dem europa-zentristischen Lehrbuch kennen.

Es geht um die historischen Tendenzen und Dynamiken in China. Und die gehen ganz und gar nicht in Richtung von Kapitalismus. Wäre China als Gesamtsystem „ein kapitalistisches Land“ (Zeise), wäre es ein hundsmiserabler Kapitalismus. Alle internationalen Studien zeigen zum Beispiel, dass die chinesische Kapitalrendite dauerhaft unter der globalen Durchschnittsrendite liegt, was die westlichen Finanzspekulanten und ihre Think Tanks (z.B. McKinsey) bedauern. Der Grund ist, dass das chinesische Privatkapital auf vielfältige Weise zur nationalen Entwicklung herangezogen wird und Infrastrukturen und die internationalen Kooperations- und Entwicklungsziele mit tragen und mitfinanzieren muss. China verteilt inzwischen auch deutlich „nach unten“ zurück, die Lohnsteigerungen sind nach wie vor überproportional, jüngste Steuerreformen haben die kleinen und mittleren Einkommen erheblich entlastet, während die Einkommen der Kapitalisten begrenzt werden und die Milliardäre ihre Einkommen rechtfertigen und nachweisen müssen.

Der staatliche Produktionsanteil ist zwar quantitativ kleiner geworden, dafür jedoch qualitativ bedeutsamer: Die inzwischen hocheffektiven staatlichen Produktionsunternehmen treiben die privaten Konzerne inzwischen „vor sich her“ und zwingen sie, zur nationalen sozialökonomischen Entwicklung beizutragen und im Ausland den international vereinbarten Kooperationszielen zu dienen. Die staatlichen Banken finanzieren millionenfaches Gründertum und schützen die Selbständigkeit junger Innovatoren und kleiner und mittlerer Unternehmen gegen den typisch kapitalistischen Fraß durch die Großen. Die chinesische Industriepolitik setzt auf die Innovation durch die Kleinen und Mittleren, setzt dann aber regelmäßig irgendwann Standards, die auch für die Großen gelten.

Westliche Unternehmen beklagen den zunehmenden Einfluss der Betriebsgruppen der KP zum Schutz der Arbeiter, der Löhne und zur Sicherung von innovativen Investitionen. Korruption, Kern des realen Kapitalismus, ist massiv bekämpft worden und drastisch reduziert, und KP und Regierung haben (nicht zuletzt deshalb) heute mehr Ansehen als je zuvor, wie zum Beispiel auch US-basierte Langfristumfragen erst jüngst wieder bestätigt haben. Die chinesischen Kapitalisten haben nicht die geringsten Chancen, ihre Finanzmacht in politische Macht umzusetzen. Die Ausbildung enthält heute auf allen Ebenen und in allen Fachrichtungen wieder höhere Anteile an marxistischer politischer Ökonomie.

„Die nationale Sicherheit ist die soziale Sicherheit der Arbeiterklasse“ (Xi), die von Kranken- und Rentenversicherung bis zu enormen Arbeitsrechten, erneuerter sozialer Mobilisierung und aktiverer lokaler Partizipation reicht. Nicht nur die Landnutzungs- sondern auch die Unternehmensformen sind vielfältig und umfassen große Bereiche an kollektiven Formen. Die „Sharing-Ökonomie“ gedeiht ebenfalls in vielfältigen Formen, von IT und Auto bis zu IT-Hard- und Software und zahlreichen Dienstleistungen. Irrationale spekulative Finanzinvestitionen (z.B. in Unterhaltungs- oder ideologische Sektoren) im Ausland werden zunehmend untersagt und zurückgefahren. Die demokratische Willensbildung und Diskussionen in den sozialen Medien sind hochaktiv und interaktiv mit den öffentlichen Akteuren auf allen Ebenen.

Was für ein mieser Kapitalismus das alles wäre, wenn es denn als System Kapitalismus wäre! In China gibt es sehr große  kapitalistische Bereiche, keine Frage, und eine Kapitalistenklasse, die sich jedoch als Klasse aber nicht politisch konstituieren kann. In historisch-dynamischer (meinetwegen auch „historisch-dialektischer“) Sichtweise tendiert alles deutlich in Richtung auf einen Sozialismus, allerdings einen Sozialismus neuer Art, den wir (und auch die Chinesen) noch nicht genau kennen, weil noch niemand je diese innovativen Wege beschritten hat. Aber die Chinesische KP hat ganz offenbar ihren theoretischen Kompass. Ein statisches Schwarz-Weiß-Prüfraster, wie Lucas Zeise es anzuwenden versucht, führt hier ins Nichts. Betrachten wir China konkret, realistisch, dynamisch – und solidarisch. Im Übrigen verweise ich auf mein Buch „Das chinesische Jahrhundert. Die neue Nummer eins ist anders“ (2020), das in der uz vor einigen Wochen besprochen wurde.

Harald Friese, Köln
Zu Zeises Kritik an dem Sozialismus in der VR-China möchte ich anmerken, dass es eine Bourgeoisie „an sich“ durchaus dort gibt. Sie ist aber nach aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr in der Lage zur Klasse „für sich“ zu werden (nach Hegel). Das wird die KP Chinas kaum zulassen. Im Übrigen verweise ich auf die Einlassungen von Prof. Wolfram Elsner in seinem Buch „Das chinesische Jahrhundert“.

Alexander Heiss , Schriesheim 
Zwischenruf von „außen“

Mittlerweile lese ich die UZ seit mehreren Jahrzehnten und verfolge mit Interesse, die zunehmende Diskussionsfreudigkeit – insbesondere unter den Lesern (siehe Thema China). Aus meiner Sicht hat eine kommunistische Partei allein schon daher eine Existenzberechtigung, die scharfe Kapitalismusanalyse von Marx und Engels weiter im Gespräch zu halten. Gern auch mit einer Diskussion zur Interpretation.

Eine zweite Aufgabe hat die DKP aus meiner Sicht leider nicht erfüllen können; nämlich über die Kritik hinaus ein konkretes Bild des Sozialismus zu entwickeln und es den BürgerInnen nahe zu bringen (siehe auch Wahlergebnisse). Ob dabei das Beispiel China weiter hilft, bezweifle ich. So sehr es für alle Versuche, den Sozialismus aufzubauen (Venezuela, Bolivien…), hilfreich wäre, eine starke Schutzmacht hinter sich zu wissen, habe ich nicht das Gefühl, dass China diesen Part übernehmen kann und will. 

Wenn in der DDR die staatliche Planwirtschaft wahrscheinlich zu starr und zu detailversessen praktiziert wurde ; so scheint mir der Aufbau des Sozialismus mit Hilfe extremer marktwirtschaftlicher Elemente im Innern (wie in China) dann doch zu weit von dem Marx und Engels entfernt, wie ich ihn kenne.

Aus China lernen (oder über China diskutieren) heißt vielleicht siegen lernen ; eine einfache Übernahme des Konzeptes oder gar eine Entwicklung als Sozialismusbeispiel für BRD-BürgerInnen taugt meines Erachtens nicht. 

Rolf Jüngermann, Gelsenkirchen
In der VR China ist seit den Reformen von Deng Xiaoping das wohl grösste Wirtschaftswunder aller Zeiten im Gange. Aus einer völlig verstaatlichten und verplanten – um nicht zu sagen versteinerten – Volkswirtschaft ist in kürzester Zeit die zweitgrößte der Erde geworden und der Supermacht USA ist ein gefürchteter strategischer Konkurrent entstanden.

In der neuartigen Kombination von Planwirtschaft und Marktwirtschaft sehen manche kommunistische Beobachter ähnlich wie damals in dem Übergang zur NÖP unter Lenin eine Rückkehr zum Kapitalismus. Hier ist
nicht die Stelle, demgegenüber auf die enormen Errungenschaften zugunsten des chinesischen Volkes, gerade auch seiner bisher am meisten benachteiligten Teile, und auf die enormen Anstrengungen der
Selbstbehauptung gegenüber dem menschenfeindlichen westlichen Imperium einzugehen. Diese Erfolge werden übrigens von bürgerlichen Beobachtern (siehe z.B. Theo Sommer 2019) oft schärfer gesehen und empfunden als von uns Kommunisten.

Für die revolutionären Kräfte in den hochentwickelten Ländern wäre es ratsam, die chinesischen Erfahrungen systematisch auszuwerten und für die eigene seit längerem ins Leere laufende Strategie fruchtbar zu machen.
Denn bevor wir keinen Strategieentwurf haben, der auf realistischen und glaubwürdigen Vorstellungen über eine international konkurrenzfähige Ökonomie beruht, solange wir den Eindruck erwecken, als könnten wir vom Gestern immer noch nicht wirklich loslassen, so lange werden wir für die meisten Menschen – gerade auch für die Arbeiterklasse – zu Recht keine ernst zu nehmende politische Alternative darstellen.

Jürgen Kelle, Düsseldorf
Dass die ökonomische und politische Situation in China diskutiert wird ist verständlich und zu begrüßen, viele Widersprüche können festgestellt werden und müssen eingehend debattiert werden.

Dennoch ist für mich eine klare Richtlinie die Aussage von Genossen Fidel Castro Ruz vom 21.7.2014. In den Reflektionen mit dem Titel „Es ist an der Zeit, die Realität etwas besser kennen zu lernen“ schreibt er: „Diese beiden Länder (Russland und China, J.K.) sind berufen, eine neue Welt anzuführen, die das Überleben der Menschheit ermöglichen würde, wenn der Imperialismus nicht vorher einen kriminellen Ausrottungskrieg entfesselt.“

Insofern halte ich es für dringend notwendig, die Realität Chinas genauer und ohne Vorbehalte zu erkunden und kann dazu nur das Buch von Wolfram Elsner „Das chinesische Jahrhundert“ empfehlen, mit vielen, hochinteressanten Aspekten. Und dem Rat Wolfram Elsner zu folgen, China selbst mit einer Informationsreise kennen zu lernen, was ich mit Sicherheit auch unternehmen werde.

Harald Kolbe, Hannover
In dem Kommentar wird von dem „gegenwärtigen Zustand des Kapitalismus“ in China geschrieben. Es werden u.a. zwei Belege dafür genannt: der „blühende Handel mit Immobilien“ und „die chinesische Großbourgeoisie als ökonomisch herrschende Klasse“. Vorsichtig relativiert wird der Immobilienhandel richtigerweise auf den Handel mit Pacht- u. Mitverträgen, was ja wohl ein ziemlicher Unterschied ist, weil, wie beiläufig erwähnt wird, es kein Privateigentum an Grund und Boden gibt. Das aber ist, wie wir wissen, der springende Punkt: Das Privateigentum. Dies zumindest scheint in China betreffend Grund und Boden noch sozialistisch verfasst zu sein. Bei den Produktionsmitteln gibt es dagegen unterschiedliche Eigentumsverhältnisse, worauf im Kommentar auch anfänglich verwiesen, im gleichen Abschnitt aber relativiert wird und als Schlussfolgerung die Großbourgeoisie als ökonomisch herrschende Klasse dargestellt wird. Die bewusste Reduzierung auf „ökonomisch“ herrschend trifft indes auch hier den entscheidenden Unterschied: Die widersprüchliche Einheit von marktwirtschaftlicher Öffnung (bei Beibehaltung wichtiger  Betriebe in Staatseigentum), die nach Ansicht der chinesischen Regierung eine effektivere Allokation von Ressourcen und Entwicklung von Produktivkräften ermöglicht und der politischen Steuerung, letztendlich durch die KPCh, der ökonomischen und sozialen Prozesse (was sich z.B. bei den Fünfjahresplänen zeigt). Die ist das Charakteristikum der sozialistische Entwicklung chinesischer Prägung. Es mag für uns befremdlich sein, wenn wir konstatieren, dass es Millionäre und Milliardäre gibt, einige selbst Mitglied der KPCh sind und sich eine konsumfreudige Mittelklasse entwickelt, die zahlenmäßig größer ist als die gesamte deutsche Bevölkerung, was aber nur die zweite Seite der Medaille darstellt, die erste Seite ist die Beseitigung der Massenarmut von 850 Millionen Menschen (Das ist zweimal so viel wie die EU-Bevölkerung). Die dahinter stehende chinesische Mentalität ist uns tatsächlich in vielem fremd; sie wird ein bissschen verständlicher z.B. in der Broschüre von Rudolph Bauer, China die Welt und wir, pad-Verlag 2020, dargestellt. Dialektik heißt auch für China, die Widersprüche in der gesellschaftlichen Entwicklung für den Fortschritt nutzen.

Stefan Kühner, Karlsruhe, Mitglied der Internationalen Kommission der DKP
Liebe Genossinnen und Genossen,

Die Kolumne von Lucas Zeise „Kurzer Blick auf China“ in der UZ vom 25.09. hat mich sehr irritiert. Dort steht, dass wir den chinesischen GenossInnen keine Ratschläge geben wollen, wie sie ihren „Sozialismus“ aufbauen, um ein paar Sätze später festzustellen, dass China ja gar kein sozialistisches Land, sondern „ein kapitalistisches Land ist.“  Das fühlt sich nicht bloß an wie ein Ratschlag, sondern wie ein echter Schlag. Außerdem, Gänsefüßchen wurden im letzten Jahrhundert von unseren Gegnern gerne verwendet, um die DDR zu verunglimpfen. Das Wort Sozialismus in dieser Form einzurahmen, finde ich inakzeptabel. Die Genossen in China wissen sehr genau, dass das Ziel Sozialismus noch lang nicht erreicht ist. Dies müssen wir Ihnen nicht um die Ohren hauen. In einem Artikel der chinesischen Parteizeitung Quishi-Journal (März-2019) schrieb Chinas Generalsekretär Xi Jinping „Was ist die wichtigste objektive Realität im heutigen China? Es ist, dass sich unser Land noch immer im primären Stadium des Sozialismus befindet und dies noch lange Zeit so bleiben wird.“ Auf unserem Parteitag im Februar haben wir beschlossen „Wir analysieren die Entwicklung Chinas jenseits der Vorurteile und Verfälschungen bürgerlicher Ideologen. In Deutschland stellen wir uns gegen antichinesische Hetze.“ Hetze und Aggressionen gegen China nehmen in diesen Tagen kaum gekannte Ausmaße an. Mir kommt die Kolumne vor wie eine zusätzliche ‚Watschen‘ von links. Unser Klassengegner wird sich ins Fäustchen lachen.

Dr. Walter Lambrecht, Rostock
Lucas Zeise ätzt über Chinas „sozialistische Vergangenheit“. Interessieren würde, wann denn die Konterrevolution stattgefunden hat. 1989 haben wir ihren Sieg in der SU erlebt, ohne dass es der Existenz von Großkapitalisten bedurfte. Ebenfalls 1989 wurde sie in China gestoppt. Die Wende dazu, die chinesischen Massen aus der Armut zu holen, fand 1979 unter folgenden, heute noch gültigen Grundsätzen statt: Festhalten am sozialistischen Weg, an der Diktatur des Proletariats, der demokratischen Diktatur des Volkes, der Führung durch die Kommunistische Partei, am Marxismus-Leninismus und an den Mao-Zedong-Ideen. Die Parteidokumente sind revolutionären Inhalts und stellen sich in die Tradition der Oktoberrevolution 1917. Da sich der sowjetische Weg u.a. wegen des riesigen landwirtschaftlichen Sektors als nicht 1:1 übertragbar erwies, entwickelte die KP den „Sozialismus chinesischer Prägung“, sich u.a. auf die NÖP Lenins beziehend. Die KP hat klare Ziele, verwechselt nicht Sozialismus mit Armut und will China bis 2049, dem 100. Jahr nach der Revolution, zu einem Land entwickeln, in dem die Menschen vernünftig leben können.

Helmut Peters, Berlin
„Die Wahrheit in den Fakten suchen“

Die Beschreibung der Eigentumsverhältnisse in den Beiträgen ist unvollständig bzw. für mich in der Tendenz unrichtig. Über das „staatliche Eigentum“ verfügt in Gestalt eines „Staatskapitalismus“ (Lenin) die im November 2013 geschaffene „obere Ebene“ unter Leitung des Generalsekretärs. Die in diesem Sektor tätigen Arbeiter und Angestellten gehören der Klasse der Lohnarbeiter an, die ihre Arbeitskraft auf dem Markt verkaufen müssen.

Mit den ungelösten Problemen in den „staatskapitalistischen“ Unternehmen sind dem Privatkapital im letzten Jahrzehnt zunehmend neue Branchen für die Realisierung ihres Kapitals geöffnet worden. Dass die „hocheffektiven staatlichen Produktionsunternehmen die privaten Konzerne inzwischen vor sich her treiben“ würden, ist leider ein Märchen. In der Nutzung des Marktmechanismus und im Bereich der technischen Innovation ist der private Sektor diesem „Staatskapitalismus“ nach offiziellen chinesischen Angaben noch weit überlegen. Die Gesamtleistung des privaten Kapitals für die chinesische Volkswirtschaft fasste der Leiter der staatlichen Kommission für Entwicklung und Reform, He Lifeng, im März 2019 unter der Nummer „56789“ zusammen: Sie zahle 50% der Steuern, erzeuge über 60% des BIP, erbringe über 70% der innovativen Erzeugnisse, stelle über 80% der Arbeitsplätze in den Städten zur Verfügung und zähle über 90 Prozent der Unternehmen des Landes (Xinhua Wang v. 6.3.2019). Noch eindeutiger sind die Anteile der verschiedenen Eigentumsformen am Export der Volksrepublik (ebenfalls 2019): Privatkapital 40.6%. ausländische Unternehmen 41,5$, staatskapitalistische Sektor 18,1%. Diese Angaben erklären das besondere Gewicht, das die chinesische Führung der Entwicklung des nationalen privaten Kapitals heute beimisst.

Um ihre anspruchsvollen Entwicklungsziele erreichen zu können, verfolgt sie eine Politik, wonach die öffentliche „staatskapitalistische“ Wirtschaft und die privatkapitalistische Wirtschaft in ihrer Entwicklung „keinesfalls erschüttert“ werden dürfen. Als in Auswirkung der letzten Krise die mittleren und kleinen Privatunternehmen 2015/16 bei der Finanzierung ihrer Produktion allesamt in große Schwierigkeiten geraten waren, wies der Generalsekretär Xi Jinping persönlich an, durch Senkung der Steuern und Minderung anderer staatlicher Belastungen in Billionen-Höhe auszuhelfen.

Eine an dieser Stelle letzte Bemerkung: Dem Genossen Lucas Zeise Eurozentrismus vorzuwerfen, zeigt, um es positiv auszudrücken, die Bedeutung, die wir der Rolle unserer Theorie in der Debatte über die Situation und Entwicklung der Kommunistischen Partei Chinas beimessen sollten.

Hans Schwabe, Stuttgart
Ist China kapitalistisch?

Bei allem, was ich bisher über China gelesen habe, möchte ich Lucas Zeises Aussage, dass China ein kapitalistisches Land sei, widersprechen. Dies lässt sich anhand einiger Parameter, die in der Kolumne leider nicht genannt werden, nachweisen.

Deng Xiaoping forderte 1978, „eine sozialistische Wirtschaftsordnung“ zu entwickeln, die Markt und Plan integriert. Wobei der Markt nun erstmals die „entscheidende“ Rolle bei der Ressourcenallokation (Zuteilung) zu spielen hatte: die chinesische Variante der sozialistischen Marktwirtschaft war geboren. Nichts anderes haben die Genossen bis heute umgesetzt.

So z.B. die klaren Aussagen in den zeitlichen und inhaltlichen Vorgaben der 5-Jahres-Pläne, die sehr detailliert die Schritte, die zum „Sozialismus mit chinesischer Prägung“ führen sollen, aufzeigen. So ist u.a. bei german.china.org.cn zu lesen, dass bis zum Jahr 2049 (der Jahrhundertfeier der VR) die Schaffung eines modernen, sozialistischen Landes, das wohlhabend, stark, demokratisch, kulturell entwickelt, harmonisch und schön sein soll, zu lesen.

Bei Wolfram Elsner bemerkt auf Seite 117, „Das chinesische Jahrhundert“ (sehr empfehlenswert): „Chinesischer Experimentalismus“: nationale Ziele, „Markt“ – Zähmung und Konzern-Regulierung. Wer experimentiert, kann Fehler machen; wer nicht experimentiert, macht einen Fehler.“

Die Genossen der VR setzen sich beständig mit immerwährenden dialektischen Rückkopplungen des eigenen Tuns auseinander. „Theorie – System – Praxis“ lautet die Herangehensweise (hierzu auch Marcel Kunzmann „Theorie, System & Praxis des Sozialismus in China“ unter www.rote-zeitung.de). Somit werden ständige Qualitäten (und Quantitäten) abgefragt und nötigenfalls wird regulierend eingegriffen. Das hat mit kapitalisitschen bzw. neoliberalen Verhältnissen nichts zu tun. Alle Sozialität ist an den Bedürfnissen des Volkes ausgerichtet. Beseitigung der Armut, Einführung der 4,5-Tage-Woche, effektive Lohnerhöhungen und fortschreitende Demokratisierung, multilaterale Handels- und Friedenspolitik, international führend in der Umweltschutzpolitik u.v.m. Und zudem sechsundfünfzig Ethnien, mit hohem demokratischen Mitsprache- und Entscheidungsrecht (mehr als in Europa), leben in Eintracht und Frieden.

China ist ein sich entwickelndes Land mit teileweise kapitalistischen Merkmalen, aber die Zeichen stehen bei aller „Öffnung und Reform“ klar auf dem Kurs des Sozialismus, auch wenn die Verantwortlichen zunächst noch bescheiden vom 1. Schritt zum Sozialismus sprechen.

Klaus Sick, Kiel
Vielen Dank für den tollen Artikel! So eine differenzierte Betrachtung der Verhältnisse in China ist auch dringend nötig. Es reicht eben nicht aus zu folgern: Wenn eine KP regiert, dann besteht Sozialismus. Es kann auch nicht gefolgert werden: Wenn eine KP in einem Land die Einschätzung vertritt, der Sozialismus sei bereits vorhanden, dann müsse es auch so sein.

Es müsste doch vor allem einmal näher untersucht werden, ob denn die Arbeiterklasse die Macht in China ausübt, und zwar die politische wie auch die ökonomische Macht. Wer konkret bestimmt in China, wer was produziert, wie die Entlohnung gestaltet wird und wem die Produkte gehören.

Nicht bestritten werden soll, dass in China im Hinblick auf Industrialisierung gewaltige Entwicklungen stattgefunden haben und wohl auch weiterhin stattfinden. Aber: Hat die Arbeiterklasse (nicht nur die Partei) die Macht oder muss sie diese erst noch erkämpfen?

Es reicht zumindest nicht aus, vom Sozialismus zu reden, wenn eine KP regiert. Mit der ökonomischen Entwicklung in China wurde und wird sicher eine immer stärker werdende Arbeiterklasse an sich entwickelt, damit auch eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus. Wie weit aber ist es um das Bewusstsein der Klasse entwickelt? Hat die Arbeiterklasse die Macht und übt sie diese aus oder die Partei (was nicht dasselbe ist) . Und weiter: In welchem Umfang verfügt die Partei tatsächlich über die ökonomischen Macht?

Ich warte mit Spannung auf  differenzierte Untersuchungen dieser Fragen.

Ulrich Straeter, Essen
Ich lese sehr gern Leserbriefe: „Volkes Stimme“. Man sollte alle Leserbriefe zum Thema, hier z. B. China, lesen, um sich ein Bild zu machen. Natürlich auch die redaktionellen Berichte und Texte. Dass die Hetze und die Aggressionen gegen China zunehmen, beweist, welche Ängste im „Westen“ bei den herrschenden Kräften vorhanden sind. Und dass solch ein „großes“ und mächtiges Land wie die USA solche Angst vor dem kleinen und schwachen Kuba hat, wirkt ja irrational. Aber sie haben ja auch keine Angst vor der Insel, sondern vor der Idee!

Was mir mal jemand erklären müsste, ist der Begriff „demokratische Diktatur“. Ob des Volkes oder sonst wessen. Für mich sind das zwei Begriffe, die sich diametral entgegenstehen. Und gegen Diktatur habe ich etwas, eine gute Diktatur dürfte es ebenso wenig geben wie den „guten König“.

Kurt Wirth, Kempten
Dem Artikel von Lucas Zeise kann ich nur beipflichten und ergänzend, auch zu einigen Leserbriefen, anmerken:

Ein entscheidendes Kriterium dafür, wer die Macht in der jeweiligen Gesellschaft hat, ist für Kommunisten und Marxisten seit eh und je: Wer hat das Eigentum an den Produktionsmitteln. Und dazu bemerkte Prof. Yang Huato aus Peking bei der Konferenz des isw in  München im Oktober 2019, dass die Investitionen in das Anlagevermögen privater Unternehmen seit 2010 schneller steigen als diejenigen in staatliche Unternehmen. Auch im wikipedia-Artikel zur Wirtschaft Chinas findet man: „Die dominante Rolle des Staatskapitals ist seit Ende der 1990er Jahre rückläufig“.

Wenn man als Beispiel den Kauf des Augsburger Roboterherstellers Kuka durch den Midea-Konzern betrachtet: Der Midea-Konzern gehört zwei chinesischen Multimilliardären. Er hält u.a. 95% an Kuka. Und China gehörte jahrelang – seit 2018 nicht mehr – zu den größten 3 ausländischen Investitionsnationen in Deutschland. Das ist typischer Kapitalexport, den Lenin als eines der 5 Merkmale des Imperialismus charakterisiert hat. Auch Huawei expandiert weltweit in gleicher Weise – auch wenn dies ein quasi genossenschaftliches Unternehmen aller Mitarbeiter ist. Aber mit der Leninschen NÖP kann man dies wirklich nicht vergleichen. Da ging es um Handwerker, Händler, Kleinbetriebe, die ausschließlich inländische Versorgungsprobleme zu beheben hatten. 

Zweifelsohne hatte die chinesische Politik den gewünschten Erfolg hinsichtlich Bekämpfung der Armut, Entwicklung der Produktivkräfte und der gesamten Wirtschaft. Das hat aber nichts mit Sozialismus zu tun, sondern eher mit dem „Nachholen“ der kapitalistischen Gesellschaftsformation, nachdem der Sprung aus dem Feudalismus in den Sozialismus nicht geglückt ist.

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