Friedrich Engels zu eigenen Irrtümern in den Klassenkämpfen

Lernen aus Niederlagen

Friedrich Engels

1895 verfasste Friedrich Engels die Einleitung zu Marx‘ Werk „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“, in dem er selbstkritisch eigene Fehleinschätzungen analysiert. Eigene Illusionen zu enthüllen, die Klassenkämpfe theoretisch zu verarbeiten ist unbedingt notwendig, um die richtige „Kampfweise“ zu entwickeln.

Als die Februarrevolution ausbrach, standen wir alle, was unsere Vorstellungen von den Bedingungen und dem Verlauf revolutionärer Bewegungen betraf, unter dem Bann der bisherigen geschichtlichen Erfahrung, namentlich derjenigen Frankreichs. Diese letztere war es ja gerade, die die ganze europäische Geschichte seit 1789 beherrscht hatte, von der auch jetzt wieder das Signal zur allgemeinen Umwälzung ausgegangen war. So war es selbstredend und unvermeidlich, dass unsere Vorstellungen von der Natur und dem Gang der in Paris, im Februar 1848, proklamierten „sozialen“ Revolution, der Revolution des Proletariats, stark gefärbt waren durch die Erinnerungen der Vorbilder von 1789 bis 1830. Und vollends, als die Pariser Erhebung ihr Echo fand in den siegreichen Aufständen von Wien, Mailand, Berlin, als ganz Europa bis an die russische Grenze in die Bewegung hineingerissen war; als dann im Juni in Paris die erste große Schlacht um die Herrschaft zwischen Proletariat und Bourgeoisie geschlagen wurde; als selbst der Sieg ihrer Klasse die Bourgeoisie aller Länder so erschütterte, dass sie wieder in die Arme der eben erst gestürzten monarchisch-feudalen Reaktion zurückfloh – da konnte unter damaligen Umständen für uns kein Zweifel sein, dass der große Entscheidungskampf angebrochen sei, dass er ausgefochten werden müsse in einer einzigen langen und wechselvollen Revolutionsperiode, dass er aber nur enden könne mit dem endgültigen Sieg des Proletariats.

Wir teilten nach den Niederlagen von 1849 keineswegs die Illusionen der um die provisorischen Zukunftsregierungen in partibus (Teile) gruppierten Vulgärdemokratie. Diese rechnete auf einen baldigen, ein für allemal entscheidenden Sieg des „Volkes“ über die „Dränger“; wir auf einen langen Kampf, nach Beseitigung der „Dränger“ unter den in eben diesem „Volk“ sich verbergenden gegensätzlichen Elementen. Die Vulgärdemokratie erwartete den erneuten Losbruch von heute auf morgen; wir erklärten schon Herbst 1850, dass wenigstens der erste Abschnitt der revolutionären Periode abgeschlossen und nichts zu erwarten sei bis zum Ausbruch einer neuen ökonomischen Weltkrise. Weswegen wir auch in Acht und Bann getan wurden als Verräter an der Revolution, von denselben Leuten, die nachher ohne Ausnahme ihren Frieden mit Bismarck gemacht haben – soweit Bismarck sie der Mühe wert fand.

Die Geschichte hat aber auch uns Unrecht gegeben, hat unsere damalige Ansicht als eine Illusion enthüllt. Sie ist noch weiter gegangen: Sie hat nicht nur unseren damaligen Irrtum zerstört, sie hat auch die Bedingungen total umgewälzt, unter denen das Proletariat zu kämpfen hat. Die Kampfweise von 1848 ist heute in jeder Beziehung veraltet, und das ist ein Punkt, der bei dieser Gelegenheit näher untersucht zu werden verdient.

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"Lernen aus Niederlagen", UZ vom 18. Februar 2022



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