2. März 1973. Drei junge Mitglieder der DKP aus Mörfelden-Walldorf: Gerd Schulmeyer, Herbert J. Oswald und Alfred J. Arndt, besuchen mit einer Delegation die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar, DDR. In ihrem Bericht hieß es damals: „Fassungslos und erschüttert gehen die Mitglieder unserer Gruppe durch die Räume der Gedenkstätte, wo in Schaukästen und Vitrinen tausende Dokumente des Grauens ausgestellt sind. In einem der Räume hängt eine große Übersichtskarte, auf der alle Konzentrationslager und Außenlager des 3. Reiches eingezeichnet sind. Die Karte ist übersät mit Punkten, Kreisen und Dreiecken. Wir lesen viele bekannte Namen: Dachau, Flossenbürg, Theresienstadt und – Walldorf. Ja, ganz deutlich ist da der Name Walldorf eingetragen, und daneben ist ein Dreieck – ein Außenlager. Wir blicken uns gegenseitig an: Ja, wenn bei uns ein KZ war, das müsste man doch wissen? Genaues Kartenstudium – kein Zweifel: es ist unser Walldorf, Walldorf in Hessen, und hier muss ein Lager gewesen sein. Nachdenklich verlassen wir die Gedenkstätte. Wenn wir nach Hause kommen, werden wir das nachprüfen. Wir werden die Ortschronik lesen und ältere Bürger fragen. Irgendwo wird es ja noch Unterlagen geben, irgendjemand wird sich erinnern. Ein KZ, von dem keiner was weiß – das gibt’s doch nicht.“ So dachten wir damals. Aber es sollte noch 6 Jahre dauern, bis die ganze Wahrheit über das KZ-Außenlager Walldorf ans Licht kam.
Heute wissen wir: Vom 22. August bis zum 24. November 1944 wurden 1 700 ungarische Jüdinnen im Alter zwischen 14 und 46 Jahren als Zwangsarbeiterinnen beim Ausbau des Frankfurter Flughafens eingesetzt. Wegen des angeblich kriegsentscheidenden Bauprojekts, der Rollbahn für ein neu entwickeltes Flugzeug, wurden die Mädchen und Frauen zur Zwangsarbeit geholt. Am 22. August 1944 kamen sie hier in Walldorf an. Im Frühsommer 1944 waren sie aus ungarischen Internierungslagern nach Auschwitz deportiert und dort für den Arbeitseinsatz selektiert worden.
„Die Selektion entschied über Leben und Tod. Kam man bei der Selektion auf die andere Seite, so bedeutete das: Gaskammer. Aber auch wenn man zur Arbeit ausgemustert wurde, war es damit noch keineswegs gewiss, dass man gerettet war. Es hing viel davon ab, in welches Lager man kam.“ (Quelle: Miriam H., zitiert in: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung ….“)
Von Auschwitz wurden die Frauen in das hessische KZ-Außenlager des KZ Natzweiler in Walldorf verbracht.
„Wir waren in Güterwaggons eingesperrt und dort, an einem Seitenplatz (Nebengleis) hat man uns ausgeladen. Auf der Rampe war groß aufgeschrieben Frankfurt am Main. Von dort sind wir weit, weit gegangen, wie weit genau weiß ich nicht mehr, nur, dass es sehr schwer zu gehen war. Wir waren so schwach nach drei Tagen ohne Wasser, ohne Essen, ohne alles.“ (Quelle: Aus einem Interview, das Herbert J. Oswald 1978 mit Helena Halperin führte.)
Die Firma Züblin zahlte 4 Reichsmark pro Tag an die SS
Die Frauen wurden zum Arbeitseinsatz am Flughafen Frankfurt eingeteilt. Sie arbeiteten für die Firma Züblin & Cie A. G,. die einen Betrag von 4 RM, pro Tag und Person, an das WVHA (SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt) entrichtete und damit Profite erzielte.
Züblin kümmerte sich aber nicht um eine Mindestversorgung. Die Sommerkleider, mit denen die Frauen in Frankfurt ankamen, wurden während der gesamten Zeit nicht durch angemessene Bekleidung ersetzt. Die Frauen versuchten sich mit Zementsäcken zu wärmen.
„Vom Flughafen haben wir leere Zementsäcke mitgenommen.“ (Quelle: Heléne B., zitiert in: Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.)
„… und Goethes Wald echote vom Klang der Internationale“
Über die Arbeit und das Verhalten von Aufsehern im Lager Walldorf berichteten Überlebende 1978 in Interviews und Briefen: „An einem kalten Novembertag mussten wir im Wald sinnlos Baumäste von einer Stelle an die andere bringen. Der mit Schnee gemischte Regen fror an unseren Körpern. Viele weinten, heulten und umarmten einander, um sich ein bisschen aufzuwärmen… Da begannen einige von uns, die ‚Internationale‘ zu singen und setzten im langsamen Tempo die sinnlose Arbeit fort. Immer mehr schlossen sich an, und Goethes Wald echote vom Klang der ‚Internationale‘. Die Wachen versuchten mit Entsetzen die Leute zum Schweigen zu bringen. Doch wir lachten ihnen ins Gesicht und sagten: ‚Bringt uns doch ins KZ, wenn es Euch nicht gefällt.‘ So ist es gelungen, der Gruppe neue seelische Kraft einzuflößen.“
(Nachsatz: Ich wurde bei Führungen oft gefragt: „Warum Goethes Wald? Offenbar dachten viele an den Wald bei Frankfurt, seiner Geburtsstadt, aber auch an „Über allen Gipfeln ist Ruh, in allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch. Es schweigen die Vöglein im Walde; warte nur, balde ruhest du auch.“ J. W. v.Goethe schrieb es am 7. September 1783 auf dem Berg Kickelhahn bei Ilmenau.) (R. H./Quelle: Zsuzsana Farkas in einem Brief von 1978 an die DKP Mörfelden)
„Wir haben im Wald gearbeitet, es war Winter und eine Menge Schnee. Ich hatte keine guten Schuhe. Niemand von uns hatte welche. Wir gingen zurück zum Lager. Ich hatte Holzschuhe an, der Schnee blieb daran hängen, so dass es für mich schwer war zu gehen … Meine Füße begannen zu bluten und entzündeten sich. Es war Routine, dass wir uns bei unserer Rückkehr im Lager stets als erstes aufstellen mussten, um gezählt zu werden. Die Deutschen erwarteten, dass wir aufrecht stehen. Mit den Entzündungen an meinen Füßen aber war es schwer überhaupt zu stehen. Die Wachen zogen mich aus der Reihe heraus und warfen mich zu Boden. Sie schlugen mich und gaben mir Fußtritte. Ich war dadurch schwer verletzt, – physisch und psychisch. Ich hoffte, dass ich sterbe würde. Das ist nur eine Episode aus dem Leben im Lager Walldorf nahe Frankfurt am Main.“ (Quelle: Hanna S.: Zitiert in: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung …“.)
Der ehemalige Luftwaffenhelfer Karl W. (geb. 1928) erinnert sich: „Die Frauen hatten in der unfreundlichen Jahreszeit dünne Sommerkleider an, die Haare ganz kurz, Zementsäcke umgehängt und die Beine mit Wellpappe umwickelt, mit einer Kordel festgezogen – ein Bild des Elends. Ich habe gesehen, dass sie Erdarbeiten an der Rollbahn verrichtet haben. Ich war entsetzt.“ (Quelle: Karl W., zitiert in: Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung)
Die meisten erlebten das Kriegsende nicht
Die unmenschliche Behandlung, die körperliche Schwerarbeit, die die Frauen bei völlig unzureichender Ernährung ca. drei Monate lang leisten mussten, führten dazu, dass im November die meisten von ihnen nicht mehr arbeitsfähig waren. Am 24. November 1944 wurde das Lager in Walldorf aufgelöst und die überlebenden Frauen – ca. 1 650 – ins KZ Ravensbrück überstellt. Die meisten von ihnen erlebten das Kriegsende nicht mehr; sie wurden ermordet, starben infolge der Zustände in Ravensbrück oder auf Todesmärschen.
Die Entdeckung und die Jahre danach
In den Jahren nach der „Entdeckung“ wurde in Mörfelden-Walldorf vor allem durch die Leiterin des Heimatmuseums Cornelia Rühlig viel zur Aufarbeitung geleistet.
Es gibt einen Gedenkpfad, einen Spielfilm in mehreren Sprachen und viele neue Broschüren. Schülerinnen und Schüler der Bertha-von-Suttner-Schule arbeiteten am Thema. Sie demonstrierten bei der Firma Züblin, setzten sich für eine Entschädigungszahlung ein. Am 15. Oktober 2000 wurde der „Historische Lehrpfad“, im Beisein von überlebenden Frauen aus dem ehemaligen Lager eröffnet. Es gibt die Margit-Horváth-Stiftung. Ein „International work and study camp“ macht Ausgrabungen, lernt und trägt die Erinnerungen weiter. Darüber freuen wir uns. Wir haben allerdings auch nicht vergessen, wie alles anfing. Wie wir als „Nestbeschmutzer“ diffamiert wurden.
Eine beeindruckende Gedenkstätte
Jetzt wurde eine Lern- und Gedenkstätte auf dem Gelände der KZ-Außenstelle errichtet.
Das Gedenk- und Bildungszentrum bietet einen imposanten Anblick: Große Fenster, auf denen die Namen von 1 700 ungarischen Jüdinnen zu lesen sind.
Während der Eröffnungsfeier stellte die Horváth-Stiftung das Gedenk- und Bildungszentrum der Öffentlichkeit vor. Viele hundert Menschen nahmen teil. Sie verfolgten im Beisein von Holocaust-Überlebenden das Programm. Auch Angehörige der Lagerinsassen waren nach Walldorf gereist.
Mehr als zwei Stunden dauerte die Einweihung, bei der Verwandte der Zwangsarbeiterinnen zu Wort kamen. Aber auch Teilnehmer der Ausgrabungen, bei denen über Jahre hinweg der Küchenkeller des Lagers freigelegt wurde, traten ans Mikrofon. In den Kellerräumen, von denen nur noch das Fundamt übrig geblieben ist, sind die ungarischen Frauen regelmäßig misshandelt und brutal geschlagen worden. Szenen des Folteralltags stellten Oberstufenschüler der Ricarda-Huch-Schule aus Dreieich nach und schilderten die Geschichte des Lagers. Die drei „Entdecker“, die damals jungen Kommunisten aus unserer Stadt, wurden genannt.
Das für mehr als 500 000 Euro errichtete Zentrum schützt nun das alte Fundamt, und soll darüber hinaus für Bildungsprojekte mit Jugendlichen genutzt werden. Für den Bau reichte das Stiftungsvermögen nicht aus, weshalb man auf Spenden und Sponsoren angewiesen war. Ihre Motive stellten die Hauptsponsoren in kurzen Dialogen mit Ausgrabungsteilnehmern vor.
Das Zentrum der Horváth-Stiftung macht allein durch seine Architektur deutlich, dass hier kein Schlussstrich gezogen wird. Das Gebäude steht mit seiner schrägen Dachkonstruktion symbolisch für den aufgeklappten Waldboden, unter dem die Geschichte des Holocaust deutlich zutage tritt.
Die großen Glaselemente sorgen dafür, dass der einstige Folterkeller auch von außen zu sehen ist. Betritt man das Gebäude, führt eine Treppe direkt in die Ausgrabungsstelle, die von den Bauarbeiten vollkommen unberührt blieb. So wurde ein authentischer Lernort geschaffen, der die Geschichte greifbar werden lässt.
Eine beeindruckende Gedenkstätte an einem bemerkenswerten Ort – zur richtigen Zeit.
Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus! Man kann es nicht oft genug sagen.
Siehe auch:
http://www.dkp-mw.de/public/books/Nachtrag_sdt.pdf
https://de.wikipedia.org/wiki/KZ-Außenlager_Walldorf
http://www.kz-walldorf.de/
http://www.moerfelden-walldorf.de/default.asp?action=article&ID=38
https://www.google.de/maps/@50.0169601,8.5856807,18z