Zu den bekanntesten Worten Lenins gehört seine Bemerkung vom August 1915, die „Vereinigten Staaten von Europa“ seien „entweder unmöglich oder reaktionär“. Der vollständige Satz zeigt, dass Lenin dies historisch-materialistisch begründet: „Vom Standpunkt der ökonomischen Bedingungen des Imperialismus, d. h. des Kapitalexports und der Aufteilung der Welt durch die ‚fortgeschrittenen‘ und ‚zivilisierten‘ Kolonialmächte, sind die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär.“ Sein Hauptargument: Die Ungleichmäßigkeit der kapitalistischen Entwicklung sei ein „unbedingtes Gesetz“, wobei „zeitweilige Abkommen zwischen den Kapitalisten und zwischen den Mächten“ möglich seien.
Die Betonung, die Lenin auf den Kolonialismus legte, ist möglicherweise in der Vergangenheit von marxistisch-leninistischen Imperialismus-Theoretikern zu wenig beachtet worden. Lenins These lautet im Grunde: Ohne Kolonien kein Monopolkapitalismus. In seiner 1916 verfassten Studie „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ schreibt er: „Das Monopol ist aus der Kolonialpolitik erwachsen. Den zahlreichen ‚alten‘ Motiven der Kolonialpolitik fügte das Finanzkapital noch den Kampf um Rohstoffquellen hinzu, um Kapitalexport, um ‚Einflusssphären‘, d. h. um Sphären für ihre gewinnbringenden Geschäfte.“ (Lenin, Werke, Band 22, Seiten 304 – 305). Nadeschda Krupskaja beschrieb sein Interesse so: „Besonders intensiv befasste er sich mit den Kolonien, über die er reichhaltiges Material gesammelt hatte. Auch mich zog er unter anderem zu einigen Übersetzungen aus dem Englischen über irgendwelche afrikanischen Kolonien heran. Er erzählte sehr viel Interessantes über seine Studien. Als ich dann seinen ‚Imperialismus‘ las, erschien er mir bedeutend trockener als seine früheren Erzählungen über seine Studien.“ (Nadeschda Krupskaja: Erinnerungen an Lenin. Berlin 1959, Seite 364)
Das mag sein. Im Abschnitt „Parasitismus und Fäulnis des Kapitalismus“ der Imperialismus-Schrift zitiert Lenin aber ziemlich plastische Abschnitte aus dem Buch „Imperialismus“ des englischen Liberalen John Hobson von 1902. Der führte zwei Umstände an, die nach seiner Meinung zur Schwächung der Kolonialimperien führen: Zum einen sei das die Ausplünderung der Kolonien zur Bereicherung der herrschenden Klasse und zum Erkaufen der „Fügsamkeit seiner unteren Klassen“ – also eine parasitäre Lebensweise beider Klassen. Zum anderen führt Hobson an, dass die Eroberungsheere der Kolonialmächte aus Angehörigen der kolonialisierten Völker bestanden. Hobson hielt das für „Blindheit“. Lenin zitiert danach den deutschen Ex-Sozialdemokraten Gerhard Hildebrand, der 1910 die „Vereinigten Staaten von Westeuropa“ (ohne Russland) propagiert hatte, und zwar „zum Zusammenwirken gegen … die Neger Afrikas, gegen eine ‚islamitische Bewegung großen Stils‘, zur Bildung einer Heeres- und Flottenmacht allerersten Ranges“ gegen eine „chinesisch-japanische Koalition“. Lenin betont, Hobson oder der ihn ergänzende Hildebrand sähen nicht die Kräfte, die dem Imperialismus im Allgemeinen und dem Opportunismus der bestochenen Oberschicht des Proletariats entgegenstehen.
Stimmt die These, dass wir Zeitgenossen der zweiten Phase der Entkolonialisierung sind, dann heißt das: Die herrschenden Klassen der Kolonialmächte sind nicht mehr in der Lage, sich so maßlos zu bereichern wie bisher und ihnen fehlen die Mittel, die sie zur Bestechung der Arbeiteraristokratie benötigen. Und: Der bewaffnete Widerstand der früheren Kolonien macht ihnen enorm zu schaffen. Die Risse in der EU, die Jörg Kronauer in der UZ vom 12. Januar darstellte, wären dann ein Symptom für die Niedergangstendenz, die Lenin mit „unmöglich oder reaktionär“ beschrieb.