Ein Beispiel für die Suche nach Übergängen zum Sozialismus

Lenins Aprilthesen

Von Hans-Peter Brenner

Hans-Peter Brenner ist stellvertretender Vorsitzender der DKP

Am 22. Januar 1917 hielt W. I. Lenin in seinem Exilort Zürich vor jungen schweizerischen Arbeitern einen „Vortrag über die Revolution von 1905“. Er spannte darin einen historischen Bogen zu den aktuellen revolutionären Unruhen in Russland. Sein Referat endete mit der zuversichtlichen Einschätzung: „Europa ist schwanger mit der Revolution“.  Gleichzeitig drückte er, trotz aller Hoffnung auf die kommende große soziale Revolution, eine deutliche Skepsis hinsichtlich des Tempos und der Dauer dieser „Schwangerschaft“ aus, als er sagte. „Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben.“ (W. I. Lenin: Ein Vortrag über die Revolution von 1905, LW 23, S. 261 f)

Selten täuschte sich Lenin so sehr wie an diesem Tag. Die revolutionären Ereignisse in Russland überschlugen sich. Die zaristische Herrschaft wurde viel schneller gestürzt.

Neue strategische Lage

Dadurch ergab sich eine neue strategische Situation. Die Partei trat aus der Illegalität; ihre Mitgliederzahl wuchs zügig und stieg in wenigen Wochen rasant (Februar bis Ende April) von 20000 auf 70 000 Mitglieder. Viele wichtige Kader, Mitglieder des ZK oder Abgeordnete der Reichsduma (dem noch unter dem Zarismus gebildeten Parlament), kehrten aus der Verbannung zurück und wurden aus Gefängnissen und sibirischen Straflagern entlassen. Darunter waren F. E. Dzierzynski, L. B. Kamenew, W. Molotow, G. K. Ordschonikidse, N. Rykow, J. W. Stalin, J. M. Swerdlow und viele andere, die in der Oktoberrevolution und in den Jahren des Bürgerkriegs und den ersten Etappen des sozialistischen Aufbaus eine zentrale Rolle spielen sollten.

Der Kurs der Parteizeitung Prawda wurde zunächst stark beeinflusst von Lew Kamenew, der sich in einem Brief noch aus sibirischer Haft auf die Seite der provisorischen neuen Revolutionsregierung gestellt und zu deren Unterstützung aufgerufen hatte. In einem Grundsatzartikel – unmittelbar nach seiner gemeinsamen Rückkehr mit J. W. Stalin nach Petersburg – rief er am 13. März in der „Prawda“ zur „revolutionären Vaterlandsverteidigung“ auf. Das stieß jedoch auf Widerspruch in der Parteiführung. Kamenew musste sich korrigieren und orientierte nun auf „Druckausübung“ auf die Regierung, um diese zu einem Friedensangebot zu zwingen.

Diese Orientierung wurde zunächst auch von Stalin mitgetragen, der später selbstkritisch unter dem Eindruck der harten Kritik Lenins diese Konzeption als „Erzeugung pazifistischer Illusionen“ bezeichnete. „Diese irrige Auffassung teilte ich damals mit anderen Parteigenossen und habe mich von ihr erst Mitte April vollständig losgesagt, als ich mich den Thesen Lenins anschloss. (J. W. Stalin: Werke Bd. 6, S. 298. Zit. Nach: Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Berlin 1971, S. 238) Lenin hatte, obwohl er die Ereignisse nur aus der fernen Schweiz nachvollziehen konnte, die neue Lage mit der „Doppelherrschaft“ von Regierung und Sowjets viel klarer erfasst als die meisten anderen führenden Bolschewiki im Lande selbst.

In mehreren „Briefen aus der Ferne“ orientierte er die Partei auf eine rasche Weiterführung der Revolution. Er knüpfte damit an einem bereits von Karl Marx ausgesprochenen Gedanken von 1848 an: der „Revolution in Permanenz“.

Die Eigenart des Moments

Lenin charakterisierte die „Eigenart der Lage in Russland“ als eine „Periode des Übergangs von der ersten Etappe der Revolution zur zweiten“ und appellierte an die Bolschewiki und die russischen Arbeiter, sie müssten „Wunder an Organisation des Proletariats und des gesamten Volkes vollbringen, um euren Sieg in der zweiten Etappe der Revolution vorzubereiten.“ (W. I. Lenin: Briefe aus der Ferne. Brief 1. LW 23, S. 321) Dazu müsse sich das revolutionäre Proletariat auf zwei Verbündete stützen: „Erstens die breite, die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung bildende und viele Dutzende Millionen zählende Masse der halbproletarischen und zum Teil kleinbäuerlichen Bevölkerung in Russland. Diese Masse braucht Frieden, Brot, Freiheit und Land. Diese Masse wird sich unvermeidlich unter einem gewissen Einfluss der Bourgeoisie und besonders der Kleinbourgeoisie befinden, der sie ihren Lebensbedingungen nach am nächsten steht, und wird zwischen Bourgeoisie und Proletariat schwanken.

Zweitens hat das russische Proletariat einen Verbündeten im Proletariat aller kriegsführenden und überhaupt aller Länder.“

Lenin machte an dieser Stelle deutlich, dass diese breite soziale und politische Koalition (noch) kein Bündnis für eine sofortige sozialistische Revolution sein sollte und konnte. In der konkreten Phase müsse es vielmehr darauf ankommen die besonderen Aufgaben des gegenwärtigen Moments verständlich zu machen, für die dieses Bündnis herzustellen sei. „Mit diesen beiden Verbündeten kann und wird das Proletariat Russlands unter Ausnutzung der Besonderheiten des gegenwärtigen Übergangsstadiums zuerst zur Eroberung der demokratischen Republik und des vollen Sieges der Bauern über die Gutsbesitzer – anstatt der Halbmonarchie der Gutschkow und Miljukow – und dann zum Sozialismus schreiten, der allein den vom Kriege gemarterten Völkern Frieden, Brot und Freiheit geben wird.“ (ebenda. S. 321 f)

Dies alles seien aber noch keine sozialistischen Maßnahmen, schrieb Lenin in einem fünften Brief; „in ihrer Gesamtheit und in ihrer Entwicklung aber würden sie den Übergang zum Sozialismus bedeuten, der in Russland nicht unmittelbar, mit einem Schlag, ohne Übergangsmaßnahmen verwirklich werden kann, aber als Resultat solcher Übergangsmaßnahmen durchaus realisierbar und überaus notwendig ist“. (Ebenda, S. 356)

Am 27.3.1917 wiederholte Lenin in einem weiteren Referat vor Schweizer Arbeitern im Züricher Volkshaus die Quintessenz seiner vorgeschlagenen konkreten Maßnahmen für den Übergang zur nächsten Etappe der russischen Revolution. „Das wäre die Politik, die die Mehrheit sowohl der Arbeiter als auch der armen Bauern für den Sowjet der Arbeiterdeputierten gewinnen würde. Die Konfiskation der Gutsbesitzerländereien wäre gesichert. Das wäre noch kein Sozialismus. Das wäre ein Sieg der Arbeiter und armen Bauern, der Frieden, Freiheit und Brot garantieren würde.“ (W. I. Lenin: Über die Aufgaben der SDAPR in der russischen Revolution. In LW 23, S. 373)

Programm des Übergangs

Am Abend nach seiner Rückkehr aus dem Schweizer Exil und dem triumphalen Empfang in Petersburg durch revolutionäre Arbeiter und Soldaten trug Lenin am 4. April auf einer Versammlung der Bolschewiki 10 Thesen, „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“ vor. Er konkretisierte und aktualisierte darin die wichtigsten Gedanken aus seinen „Briefen aus der Ferne“. Am Schluss der Versammlung schlug der Versammlungsleiter Grigori Sinowjew, einer seiner engen Mitarbeiter im Schweizer Exil, vor, diese Thesen sofort in einer gemeinsamen Versammlung bolschewistischer und menschewistischer Delegierter noch einmal vorzutragen. Auf diesen beiden Beratungen lösten Lenins „Aprilthesen“ heftigen Widerspruch aus. Deshalb wurde nach einigen weiteren Besprechungen beschlossen, darüber bis zu der am 20.4.1917 beginnenden „Gesamtrussischen Konferenz“ der SDAPR eine öffentliche Debatte zu führen.

Was war das Besondere an diesen Aprilthesen, um die so kontrovers diskutiert wurde? Im Prinzip enthielten sie sehr konkrete Vorschläge für die Suche nach Übergängen und das Herankommen an die zweite, die sozialistische Etappe der Revolution. Die Aprilthesen waren das zeitgemäße Programm für die Heranführung der revolutionären Kämpfe an den revolutionären Bruch nicht nur mit der Politik und dem Regime des imperialistischen Krieges, sondern mit dem kapitalistischen System in Russland, das sich bereits in der Anfangsphase des staatsmonopolistischen Kapitalismus befand. Deshalb sind diese Aprilthesen bis heute auch ein Lehrstück für die Entwicklung der Strategie und Taktik der kommunistischen Parteien geblieben.

„Die Thesen enthielten schließlich einen theoretisch begründeten konkreten Plan für den Übergang zur sozialistischen Revolution.“ (Geschichte der KPdSU, Dietz Verlag 1971, S. 244)

Kontroverse um die nächsten Schritte

Viele führende Bolschewiki, darunter Kamenew und Stalin, glaubten, dass sie der alten, auch von Lenin mit ausgearbeiteten strategischen Orientierung aus den Zeiten der ersten Revolution von 1905/07 weiter folgen müssten: dem Aufbau einer „revolutionär-demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern“ über einen längeren, zeitlich unbestimmten Zeitraum.

Lenin orientierte dagegen auf eine deutlich stärkere Beschleunigung des Tempos, um die nächste, die sozialistische, Etappe der Revolution vorzubereiten. Dazu hieß es in seiner zweiten These:

„2. Die Eigenart der gegenwärtigen Lage in Russland besteht im Übergang von der ersten Etappe der Revolution, die infolge des ungenügend entwickelten Klassenbewusstseins und der ungenügenden Organisiertheit des Proletariats der Bourgeoisie die Macht gab, zur zweiten Etappe der Revolution, die die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Schichten der Bauernschaft legen muss.“ (W. I. Lenin: Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution. LW 24, S. 4)

Nun müssten alle Kräfte darauf konzentriert werden (These 4), dass die Bolschewiki, die „in den meisten Sowjets der Arbeiterdeputierten in der Minderheit, vorläufig sogar in einer schwachen Minderheit sind gegenüber dem Block aller kleinbürgerlichen opportunistischen Elemente“, die Mehrheit erkämpfen. Die Sowjets seien „die einzig mögliche Form der revolutionären Regierung.“

Die Aufgabe der aktuellen Phase formulierte Lenin so: „Solange wir in der Minderheit sind, besteht unsere Arbeit in der Kritik und Klarstellung der Fehler, wobei wir gleichzeitig den Übergang der ganzen Staatsmacht an die Sowjets der Arbeiterdeputierten propagieren, damit die Massen sich durch die Erfahrung von ihren Irrtümern befreien.“ Der Zustand der Doppelherrschaft von „Provisorischer Regierung“ und Sowjets müsse überwunden werden.

„5. Keine parlamentarische Republik – von den Sowjets der Arbeiterdeputierten zu dieser zurückzukehren wäre ein Schritt rückwärts –, sondern eine Republik der Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputierten im ganzen Lande, von unten bis oben.“ (ebenda, S. 5)

Die Aprilthesen legten in Punkt 7 auf wirtschaftlichem Gebiet eine Reihe von Übergangsmaßnahmen vor. Diese waren:

• Nationalisierung des gesamten Bodens im Lande,

• „Konfiskation“, d. h. Enteignung und Beschlagnahme der Ländereien der Gutsbesitzer,

• Übertragung der Verfügungsmacht über den Boden in die Hände der örtlichen Sowjets, der Landarbeiter- und Bauerndeputierten und Bildung besonderer Sowjets der armen Bauern.

• Verschmelzung aller Banken zu einer Nationalbank, Einführung der Kontrolle über die Nationalbank durch den Sowjet der Arbeiterdeputierten.

Das Programm der Aprilthesen, das für viele damalige und heutige Ohren absolut „sozialistisch“ anmutet(e), bedeutete aber keinesfalls schon den kompletten Bruch mit der kapitalistischen Produktionsweise.

Schritte und Phasen

Lenin machte dies im nächsten Punkt 8 sehr klar und lieferte damit auch für die gegenwärtigen Debatten über die kommunistische Strategie und Taktik ein glänzendes Beispiel für die sehr präzise Bestimmung der konkreten Phase des revolutionären Gesamtprozesses, innerhalb des Übergangs von der ersten zur zweiten Etappe der Revolution.

„8: Nicht Einführung des Sozialismus als unsere unmittelbare Aufgabe, sondern augenblicklich nur Übergang zur Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion und die Verteilung der Erzeugnisse durch den Sowjet der Arbeiterdeputierten.“ (ebenda, S. 6)

Zur weiteren Erläuterung seiner Aprilthesen schrieb Lenin dann nur wenige Tage später eine Broschüre „Briefe über die Taktik“. Er wiederholte und erläuterte darin mit Blick auf nach wie vor bestehende Unklarheiten im Parteikader noch einmal die Besonderheiten der aktuellen Lage und Taktik, die nicht mit dem Festkleben an alten Losungen zu beantworten seien. Er half damit vielen – auch führenden – Bolschewiki das Spezielle der aktuellen Phase besser zu verstehen.

Kamenew hatte ihm vorgeworfen, dass sein „Schema berechnet (sei) auf die ‚sofortige Umwandlung dieser (der bürgerlich-demokratischen) Revolution in eine sozialistische.’

„Das stimmt nicht. Ich rechne nicht mit einer sofortigen Umwandlung unserer Revolution in eine sozialistische, sondern warne im Gegenteil geradezu davor, erkläre ausdrücklich in These Nr. 8: … Nicht ‚Einführung’ des Sozialismus als unsere unmittelbare Aufgabe. …

Mehr noch. Selbst ein Kommunestaat (d. h. ein nach dem Vorbild der Pariser Kommune organisierter Staat) lässt sich in Russland nicht sofort einführen, denn dazu ist es erforderlich, dass die Mehrheit der Deputierten in allen (oder jedenfalls in den meisten) Sowjets klar erkennt, wie falsch und schädlich die Taktik und die Politik der Sozialrevolutionäre, der Tscheidse, Zereteli, Steklow, usw ist. Ich habe aber ganz eindeutig erklärt, dass ich hierbei nur auf eine geduldige(…) Aufklärungsarbeit rechne!“ (W. I. Lenin: Briefe über die Taktik. LW 24, S. 35)

Diese Konzeption einer möglichst realistischen, die realen Kräfteverhältnisse in der Arbeiterbewegung und ihren Bewusstseinsstand berücksichtigende Strategie und Taktik wurde dann nach langen und zum Teil aufreibenden Diskussionen durch die siebente Gesamtrussische (April-) Konferenz der SDAPR mit Mehrheit beschlossen.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Lenins Aprilthesen", UZ vom 31. März 2017



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol LKW.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit