Lenin: Die revolutionären Marxisten auf der Internationalen Sozialistischen Konferenz vom 5.–8. September 1915

Der auf dieser Konferenz geführte ideologische Kampf wurde zwischen einer geschlossenen Gruppe von Internationalisten, revolutionären Marxisten, und schwankenden Beinahe-Kautskyanern ausgetragen, die den rechten Flügel der Konferenz bildeten. Der Zusammenschluss der genannten Gruppe ist eine der wichtigsten Tatsachen und einer der größten Erfolge der Konferenz. Nach einem ganzen Kriegsjahr erwies sich die von unserer Partei vertretene Richtung als die einzige in der Internationale, die mit einer völlig eindeutigen Resolution – wie auch mit einem da­rauf fußen­den Entwurf eines Manifests – hervorgetreten ist und die konsequenten Marxisten Russlands, Polens, Lettlands, Deutschlands, Schwedens, Norwegens, der Schweiz und Hollands um sich vereinigt hat.

Welche Argumente wurden nun von den Schwankenden gegen uns ins Feld geführt? Die Deutschen gaben zu, dass wir revolutionären Schlachten entgegengehen, aber – sagten sie – solche Dinge wie Verbrüderung in den Schützengräben, politische Streiks, Straßendemonstrationen und Bürgerkrieg dürfe man nicht in alle Welt ausposaunen. Das tue man, aber davon spreche man nicht. Und andere fügten hinzu, das sei Kinderei, das sei Blendwerk.

(…) Ihr folgt dem schlechten Beispiel Kautskys, antworteten wir den Deutschen: In Worten bekennt ihr euch zur kommenden Revolution, faktisch aber verzichtet ihr darauf, den Massen offen von der Revolution zu sprechen, sie dazu aufzurufen und ganz konkret die Kampfmittel anzugeben, die von der Masse im Verlauf der Revolution erprobt und als richtig anerkannt werden. Vom Ausland her – den deutschen Philistern erschien es entsetzlich, dass man es wagt, vom Ausland her über revolutionäre Kampfmittel zu sprechen! – riefen Marx und Engels 1847 in dem berühmten „Manifest der Kommunistischen Partei“ zur Revolution auf, sie sprachen klar und offen von der Anwendung der Gewalt und erklärten, dass sie es „verschmähen“, ihre revolutionären Ziele, die Aufgaben und Methoden des Kampfes zu verheimlichen. Die Revolution von 1848 bewies, dass allein Marx und Engels mit der richtigen Taktik an die Ereignisse herangegangen waren. In Russland, mehrere Jahre vor der Revolution von 1905, schrieb Plechanow, damals noch Marxist, in der alten „Iskra“ 1901 in einem Artikel, der nicht gezeichnet war, weil er die Auffassung der ganzen Redaktion zum Ausdruck brachte, über den kommenden Aufstand und über solche Mittel und Wege zu seiner Vorbereitung wie Straßendemonstrationen, ja sogar über solche technischen Methoden wie die Verwendung von Draht für den Kampf gegen Kavallerie. Die Revolution in Russland bewies, dass allein die alten „Iskristen“ mit der richtigen Taktik an die Ereignisse herangegangen waren. Auch jetzt gilt: eines von beiden. Entweder sind wir wirklich fest davon überzeugt, dass der Krieg in Europa eine revolutionäre Situation schafft, dass die ganze ökonomische und sozial-politische Lage der imperialistischen Epoche zur Revolution des Proletariats führt. (…) Oder wir sind nicht davon überzeugt, daß die Situation revolutionär ist, und dann sollten wir nicht leere Worte vom Krieg gegen den Krieg im Munds führen. Dann sind wir in Wirklichkeit nationalliberale Arbeiterpolitiker von Südekum-Plechanowscher oder von Kautskyscher Färbung.

(…) Die Frage, mit welcher Schnelligkeit, auf welchem Wege und in welchen spezifischen Formen das Proletariat verschiedener Länder den Übergang zu revolutionären Aktionen zu vollziehen imstande ist – diese Frage wurde auf der Konferenz überhaupt nicht aufgeworfen, und sie konnte auch nicht aufgeworfen werden. Dazu fehlen noch die Unterlagen. Für uns heißt es einstweilen, gemeinsam die richtige Taktik zu propagieren, die Ereignisse werden dann im Weiteren das Tempo der Bewegung und die (nationalen, lokalen, gewerkschaftlichen) Modifikationen der allgemeinen Richtung bestimmen. (…)

Ein Italiener, der sich gegen unsere Taktik erklärte, meinte: „Eure Taktik kommt entweder zu spät“ (denn der Krieg hat schon begonnen) „oder zu früh“ (denn der Krieg hat die Voraussetzungen für die Revolution noch nicht geschaffen); und zudem empfehlt ihr eine „Änderung des Programms“ der Internationale, denn unsere ganze Propaganda hat sich stets „gegen die Gewaltanwendung“ gerichtet. Es fiel uns nicht schwer, darauf mit einem Zitat aus Jules Guesdes „En Garde!“ („Auf der Wacht!“) zu antworten, wonach kein einziger einflussreicher Führer der II. Internationale jemals die Gewaltanwendung und überhaupt die unmittelbar revolutionären Kampfmethoden negiert hat. Sie alle haben stets erklärt, dass der legale Kampf, der Parlamentarismus und der Aufstand miteinander verknüpft sind und unvermeidlich ineinander übergehen müssen, je nachdem, wie sich die Bedingungen der Bewegung ändern (…)

Auszug aus dem im „Sozial-Demokrat“, Nr. 45•46,

am 11. Oktober 1915 erschienenen Artikel. Lenin, Werke, Bd. 21, S. 396–400

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"Lenin: Die revolutionären Marxisten auf der Internationalen Sozialistischen Konferenz vom 5.–8. September 1915", UZ vom 4. September 2015



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