Noch deutlicher lässt sich der Abscheu gegen demokratische Wahlen kaum ausdrücken. Wenige Tage vor der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung in Venezuela hatte die USA-Regierung, deren Präsident bei der Wahl von etwa einem Viertel der Wahlberechtigten seines Landes ins Amt gebracht wurde, deutlich erklärt, dass jeder, der sich für die Constituyente wählen lässt, mit Sanktionen der USA rechnen müsse. Die USA sahen sich, ebenso wie die Europäische Union, auch genötigt, noch vor den Wahlen zu erklären, dass sie das Ergebnis der Abstimmung nicht anerkennen werden. Über Demokratieverständnisse lässt sich trefflich streiten, auch in der EU, wo man seit Jahrzehnten darin geübt ist, entweder das Volk gar nicht zu fragen, oder, wenn es dann unumgänglich erscheint, das Ergebnis so lange hinzubiegen, bis es den Interessen der Herrschenden dienlich ist.
Was die Leute, die im selbsternannten „freien Westen“ die Politik bestimmen, vom Wahlgang in Venezuela halten, haben sie selbst und über die ihnen hörigen Medien deutlich gemacht. Ungefiltert werden die Vorwürfe der rechten Opposition weitergegeben, die da lauten: „Maduro muss weg!“ und „Die Constituyente bedeutet Diktatur, Hunger, Elend“. Die Opposition wird als der gute Part in Venezuela dargestellt, unabhängig davon, ob deren Vertreter Steine oder Brandflaschen werfen, Läden und Kinderkrankenhäuser überfallen oder auch Kandidaten für die Wahl kurzerhand erschießen. Die westlichen Leitmedien sehen die Schuldigen für die Gewalt ausschließlich bei der Regierung, auch wenn Agenturfotos das Gegenteil darstellen. Darüber lohnt es sich nachzudenken.
Auch darüber, dass trotz des allgegenwärtigen Terrors, der Bedrohung von Leib und Leben, der übermächtigen medialen Hetze mehr als 8 Millionen Bürger zu den Wahllokalen gegangen sind. Eine Wahlbeteiligung von etwas über 41 Prozent ist zwar kein Grund zum Feiern, dennoch ist es beachtlich, dass sich unter diesen Bedingungen so viele Menschen beteiligen. Es bedeutet immerhin, dass sie sich einbringen wollen in die weitere Gestaltung der Politik und der Gesellschaft, dass sie nicht aufgeben trotz der schwierigen Lage, in der sich ihr Land befindet. Auch das ist eine wichtige Lektion in Demokratie.
Die wichtigste Lektion müssen jedoch diejenigen lernen, die immer noch meinen, in Venezuela herrsche ein Sozialismus, oder ein „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Dass das nicht so ist, zeigt besonders die jüngste Entwicklung der letzten Monate. Wenn eine Regierung, die von einer sozialistischen Partei formiert wird, sich in erster Linie auf Einnahmen aus den reichen Ölquellen des Landes verlässt, hat das nichts mit planmäßiger Gestaltung der wirtschaftlichen Entwicklung zu tun, schon gar nicht mit Sozialismus. Es ist durchaus sozial, wenn die Einnahmen auch auf die Menschen verteilt werden, die auf der untersten Stufe der Gesellschaft stehen – aber das allein hilft diesen Menschen nicht, dauerhaft aus ihrem Elend herauszukommen.
Es kommt darauf an, allen arbeitenden Menschen die Möglichkeit zu geben, über ihr Leben selbst bestimmen zu können. Dafür ist die erste Voraussetzung, sie von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu befreien, das heißt, die wichtigsten Unternehmen des Landes nicht in Privateigentum zu belassen, so dass sie nicht im Profit-Interesse des Besitzers arbeiten, sondern zur Mehrung des Wohlstandes aller, die ihre Arbeitskraft einbringen. Erst wenn dieser Schritt getan wird, kann die Rede sein von Sozialismus. Falls die Delegierten der Verfassunggebenden Versammlung in dieser Richtung Beschlüsse fassen sollten, dann war die Wahl von Sonntag tatsächlich ein Erfolg.