Trumpf des deutschen Kapitals beim Kampf um internationale Märkte und Einfluss

Leiharbeit, Befristungen und Niedriglohn auf Rekordniveau

Die Agenda-Politik der 2000er Jahre wirkt fast ungebremst nach. Trotz Einführung des gesetzlichen Mindestlohns und ein paar kleinerer, meist kosmetischer Reformen an der Arbeitsmarktpolitik dieser Zeit bleibt der Niedriglohnsektor in der Bundesrepublik stabil hoch. Fast jeder fünfte abhängig Beschäftigte in Deutschland arbeitet unter diesen prekären Bedingungen. Dies geht aus einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts vom 21. Oktober hervor. In absoluten Zahlen bedeutet dies, dass rund 8 Millionen Beschäftigte unterhalb der aktuellen Niedriglohnschwelle von 11,05 Euro brutto je Stunde entlohnt werden. Das Statistische Bundesamt beruft sich hier auf die Ergebnisse der Verdienststrukturerhebung von 2018, bei der alle vier Jahre mit einer geschichteten Stichprobe von 60.000 Betrieben Angaben zu Verdiensten und Arbeitszeiten der abhängig Beschäftigten erhoben werden. Vergleicht man die Zahlen mit den Ergebnissen der Vorgängerstudie, stellt man fest, dass die Anzahl der im Niedriglohnbereich Beschäftigten sogar um 393.000 zugenommen hat. Mit 1,5 Millionen wurden die meisten Niedriglohnjobs im Handel gemeldet. Das entspricht einem Anteil von 29 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse in der Branche. Im Gastgewerbe sind 1,2 Millionen Kolleginnen und Kollegen betroffen. Damit sind dort gut zwei Drittel (67 Prozent) aller Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnbereich angesiedelt. Das sind mehr als in jeder anderen Branche.

Die Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes belegen eindrucksvoll die Dimensionen. Was sind aber die Ursachen der millionenfachen Erwerbsarmut und welche politischen und ökonomischen Ziele wurden mit der Etablierung eines gigantischen Niedriglohnsektors verfolgt?

In Folge der Agenda-Politik ging im Zeitraum von 1998 bis 2008 der Anteil sogenannter Normalarbeitsverhältnisse von 72,6 Prozent auf 66 Prozent zurück, während gleichzeitig der Anteil atypischer Beschäftigung von 16,2 Prozent auf 22,2 Prozent zunahm. Die Anzahl der Beschäftigten im Niedriglohnsektor stieg um 2,3 Millionen. Allein zwischen 2006 bis 2008 war es eine halbe Million. In Folge der Liberalisierung der Leiharbeit nahm die Anzahl der Leiharbeiter von 326.000 im Jahr 2004 innerhalb von 4 Jahren auf 800.000 zu. Durch die Einführung sogenannter Minijobs wurde der Niedriglohnsektor weiter aufgebläht.

Insbesondere die verschärften Zumutbarkeitsregelungen bei Arbeitsangeboten der Arbeitsagentur in Verbindung mit der verkürzten Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I hatten einen indirekten, aber massiven Einfluss auf das Lohngefüge in der BRD. Die betroffenen Kolleginnen und Kollegen waren nun gezwungen, fast jede Beschäftigung anzunehmen, unabhängig davon, ob die angebotene Arbeit ihren Qualifikationen entsprach und ob sie davon leben konnten.

Das Ziel der Hartz-Reformen war aber nicht in erster Linie, Erwerbslose zu drangsalieren, sondern Kernbelegschaften zu disziplinieren. Denn wenn Kolleginnen und Kollegen befürchten müssen, bei Jobverlust nach nur einem Jahr fast alles zu verlieren, ist die Bereitschaft, für Interessen und Rechte zu kämpfen, nur bedingt ausgeprägt.

Auch die massive Zunahme befristeter Arbeitsverhältnisse in den letzten Jahren verstärkt diesen Trend. Inzwischen hat fast jeder zehnte Beschäftigte in Deutschland nur einen befristeten Arbeitsvertrag. Zwischen 1993 und 2015 hat sich die Zahl verdreifacht und die Einkommen zwischen befristet und unbefristet Beschäftigten gehen weit auseinander. Unter diesen Rahmenbedingungen fällt es der Kapitalseite leicht, Errungenschaften der Arbeiterbewegung zu schleifen. Was mit Tarifflucht und Bekämpfung von Mitbestimmungsstrukturen begann, findet aktuell mit den Werksschließungen und Massenentlassungen unter den Bedingungen der Umstrukturierungsprozesse im Rahmen der Transformation seine Fortsetzung. So bleibt der Niedriglohnsektor in Verbindung mit einer extrem hohen Produktivität ein entscheidender Trumpf des deutschen Kapitals beim Kampf um internationale Märkte und Einfluss.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Leiharbeit, Befristungen und Niedriglohn auf Rekordniveau", UZ vom 30. Oktober 2020



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flugzeug.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit