Die in den 70er Jahren links sozialisierten und heute weis(s)en alten Männer haben keinen Grund, in Sack und Asche zu gehen

Leichte linke Sommerlektüre

In heutigen Bellestrik-Regalen sind Bücher selten zu finden, in denen mit Rückblick auf die westdeutschen Gymnasien der 1960er Jahre davon geschrieben wird, die damaligen Lehrer waren „eine verdammte Drecksbande, der wir hilflos ausgeliefert waren. Nichts als ein Haufen von Alt-Nazis. ‚Die Diktatur des Proletariats hat an dieser Schule keine Chance!‘, äffte er die Stimme ihres damaligen Direktors nach.“ Und wo sonst schon findet sich der Hinweis des zerrissenen, zweifelnden Helden des Romans, der sich vornimmt, dass Honorare mindestens anteilig „an eine NGO“ gehen – und dann neben anderen die „Rote Hilfe“ erwähnt.

Das alles und noch viel mehr aber kommt nicht verbissen, nicht mit roten Schwänzchen, sondern mit einem leichten Sommerwind aus den Blättern des 450-Seiten-Buches geflattert.

Wer heute zwischen 60 und 70 Jahre alt ist oder jedenfalls die Männer dieser Generation nicht rundherum ablehnt und etwas Leichtes, aber nicht Seichtes für den Sommer 2022 sucht, der sollte ihn lesen, den „Rollator Blues“ des Hannoverschen Autors Wolfram Hänel.

Zum Schluss seiner Trilogie über die manchmal tapsigen, aber nie verzagenden Freunde Appaz und Kerschkamp lässt er die beiden mit drei weiteren Kumpels – nach einem furiosen Auftakt, der am Strand von Wilhelmshaven spielt – nach Südfrankreich fahren. Fünf Freunde sind es, die sich selbst beweisen wollen, dass sie zwar vielleicht „too old to rock ’n‘ roll“ sind, aber definitiv „too young to die“ – die eigenen Träume eingeschlossen. Also machen sie sich auf eine Reise, die sie 1975 schon einmal unternommen hatten: mit einem VW-Bus zum Atlantik. Gestützt von Zigaretten, Dope und Alkohol (von allem ein wenig viel), machen sich die fünf auf und wissen: „Altwerden ist nichts für Feiglinge“, reiben sich an ihren alten Zwistigkeiten, Eifersüchteleien, Dramen und verlorenen Hoffnungen und wissen doch: „Und mal ganz ehrlich, Kurt, auch wenn wir nicht unbedingt die richtigen Lösungen gefunden haben, zumindest haben wir schon in den Siebzigerjahren die richtigen Fragen gestellt!“ Ehrliche Lebensresümees durchziehen das Buch, etwa wenn Udo, den alle für einen der Großen im Marketing von Volkswagen halten, bekennt: „Die letzten Jahre bei VW waren scheiße. Ich habe den Anschluss verloren, moderne Zeiten, verstehst du?“ Sie haben Angst vor Alzheimer und einen von ihnen scheint es erwischt zu haben – aber auch das ist eben wie jede der anderen Macken und Gebrechen, die zum Älterwerden gehören, nicht das Ende. Vor allem aber wehren sie sich dagegen, nur wegen ihres Alters schon abgeschrieben und in ihren Ansichten nicht mehr ernst genommen zu werden. Sie bestehen erfrischend klar und trotzig darauf, dass ihr Leben und auch ihre politische Grundstimmung, die in den frühen Siebzigern entstanden ist und viele der damals Geprägten bis heute leitet, weder falsch noch verwerflich war.

Jedes Kapitel wird mit einem Songausschnitt eingeläutet. Musik ist einer der durchgehenden Stränge des Buches, dessen Grundmelodie der 1956 geborene Autor in einem sehr persönlichen Nachwort in die Sätze kleidet: „Wir sollten die Zeit, die uns bleibt, gefälligst nutzen! Dazu wird es nicht reichen, ein paar Bäume im Vorgarten zu pflanzen – wir müssen umdenken und gesellschaftliche Systeme verändern, anders wird es nicht gehen: Make capitalism history! Und nochmal: Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt?“

Ein großartiges, warmes und auch liebevoll gestaltetes Buch – wie geschaffen für Berge und Strand, nicht nur in Frankreich.

2511 Rollator - Leichte linke Sommerlektüre - Musik - Kultur

Wolfram Hänel
Rollator Blues, Vielleicht muss man ja doch nicht sterben …
Zu Klampen Verlag, 453 Seiten,
24 Euro

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"Leichte linke Sommerlektüre", UZ vom 24. Juni 2022



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