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Legendenbildung

Ein Wort, das eine steile Medienkarriere gemacht hat: Narrativ. Es steht für eine „sinnstiftende Erzählung“ und sein Gebrauch dient der Perfektionierung der Kunst des Leutebescheißens. Die Methode: Gröbster Unfug wird, oft genug wiederholt, zu Fug, wenn er sich schließlich in Voraussetzung und Allgemeingut des herrschenden Diskurses verwandelt.

Musterbeispiel ist die Geschichte von der Verfolgung und Fast-Ermordung des „schärfsten“ und (im Westen) „bekanntesten Kreml-Kritikers“, Alexej Nawalny. Die Geschichte dieses korrupten Rechtsextremisten ist seit dem 20. August, als er als Notfallpatient mit Vergiftungserscheinungen ins Omsker Krankenhaus eingeliefert wurde, mehrfach umgeschrieben worden, doch die Grundbestandteile blieben: Nawalny wurde vergiftet, und zwar mit Nowitschok. Die Spur des Verbrechens führt nur in eine Richtung – in den Kreml, und dort nur zu einer einzigen Person – zu Wladimir Putin.

Musste der Erzählung anfänglich noch das Wort „mutmaßlich“ als Stützpfeiler eingezogen werden, so wurde die Konstruktion schnell selbsttragend: „Es zeigt sich ein gewisses Muster“, wusste der Transatlantikbrücken-Lobbyist Norbert Röttgen und verwies damit auf die ähnlich windige Skripal-Legende. Man kennt das ja aus dem Neuen Testament, dass Lichtgestalten nach letaler Behandlung einige Tage später putzmunter wieder auferstehen. Und so konnte Nawalny im „Spiegel“-Interview das endgültige Urteil sprechen: „Ich behaupte, dass hinter der Tat Putin steht, und andere Versionen des Tathergangs habe ich nicht.“ Wer wird an den Worten des Mannes zweifeln, der ein Attentat mit einem absolut tödlichen Nervengift auf wunderbare Weise überlebt hat? Damit sind die deutschen Behörden aus dem Schneider, die ja mal ihre „Erkenntnisse“ gegenüber den russischen Ermittlern zu erläutern und mit überprüfbaren Beweisen zu untermauern hätten, statt ihnen Beweismittel und Zeugenaussagen zu verweigern.

Außenminister Heiko Maas wusste auch schon vor dem wundersamen Wiedererwachen des Alexej Nawalny die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Gestützt auf das Narrativ, forderte er vor der UNO-Vollversammlung Sanktionen gegen Russland.

Eigentlich erstaunlich, dass man immer wieder erstaunt ist über die Dreistigkeit, mit der die Geschichtenerzähler, die auf Regierungsbänken und in Redaktionen ein ehrbares Leben als Lebensmitteldiscounter-Filialleiter schwänzen, auf die Akzeptanz ihrer Legenden bauen. Das Nawalny-Narrativ wird bald da landen, wo das über Skripal und Assads Giftgasangriffe schon lagern – um bei nächster Gelegenheit die nächste Geschichte zu stützen.

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"Legendenbildung", UZ vom 9. Oktober 2020



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