Vergangene Woche traten zwei Ende Oktober von der israelischen Knesset verabschiedete Gesetze in Kraft, die dem UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge UNRWA, der „Lebensader“ der Palästinenser, verbieten, Vertretungen auf israelischem Boden zu betreiben und Dienstleistungen anzubieten. Behörden in Israel dürfen keinen Kontakt zu der Organisation mehr unterhalten, UNRWA-Mitarbeiter verlieren Privilegien wie Immunität und Steuererleichterungen. Die Folgen für die Arbeit der Organisation sind gravierend, denn Israel kontrolliert die Grenzübergänge in die besetzten palästinensischen Gebiete. Ein Ausfall des Hilfswerks, das erklärt hat, seine Arbeit trotz des Verbots fortzusetzen, solange noch Vorräte vorhanden sind, wäre für die ohnehin extrem unterversorgte palästinensische Bevölkerung eine Katastrophe. Infolge des Kriegs gegen den Gazastreifen ist ein Großteil der Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen außer Betrieb.
1.050 Mitarbeiter des Gesundheitswesens wurden getötet. Von 564 Schulgebäuden in der Küstenenklave sind 534 beschädigt oder zerstört. Die gesamte Bevölkerung ist auf Hilfsleistungen angewiesen. Laut den Vereinten Nationen erhielten Anfang Januar 96 Prozent der Kinder unter zwei Jahren und der Frauen nicht die notwendigen Nährstoffe.
Seit die „umfassende Infiltration des UNRWA durch Terroristen aufgedeckt“ worden sei, habe ihr Generalkommissar Philippe Lazzarini die öffentliche Debatte mit falschen Aussagen „grundlegend verfälscht“, so eine offizielle israelische Regierungsseite am 26. Januar. Die UNO habe die ihr vorgelegten Beweise „überhaupt nicht untersucht“. Zudem entstellt der Text die Ergebnisse des im April 2024 veröffentlichten „Colonna“-Berichts. Diesen hatten die Vereinten Nationen beauftragt nach israelischen Vorwürfen, 12 UNRWA-Mitarbeiter seien an den Angriffen des 7. Oktober beteiligt gewesen und die Organisation sei von der Hamas und dem Islamischen Dschihad unterwandert. Auch wird behauptet, die jährlich von UNRWA an die israelische Regierung übermittelten Mitarbeiterlisten seien – absichtlich – in einem „Format bereitgestellt“ worden, „das eine ordnungsgemäße Überprüfung und vor allem einen Vergleich der Daten mit anderen Quellen“ verhindert habe. Neben weiteren Verzerrungen und dem Vorwurf, Lazzarini betreibe Desinformation und „plappere“ Zahlen von Hamas-Ministerien nach, behauptet der Text implizit, es sei möglich, UNRWA durch andere Hilfsorganisationen zu ersetzen.
Die Argumentation entspricht dem jahrzehntealten Diskurs Tel Avivs. Denn die UNRWA ist wegen ihrer Anerkennung aller 1948 geflüchteten Palästinenser und deren Nachkommen (damals 750.000, inzwischen 5,9 Millionen Menschen) als Flüchtlinge gemäß dem ihr von der UN-Generalversammlung erteilten Mandat sowie der UN-Resolution 194 ein Dorn im Auge. Nicht umsonst warf Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Anfang 2024, als die israelische Regierung die im „Colonna“-Bericht untersuchten Vorwürfe gegen UNRWA erhob, dem Hilfswerk zugleich den „Wunsch, das palästinensische Flüchtlingsproblem am Leben zu erhalten“, vor. Dass die Anschuldigungen just an dem Tag veröffentlicht wurden, an dem der Internationale Gerichtshof verfügte, Israel müsse Maßnahmen zur Verhinderung eines Völkermords im Gazastreifen ergreifen und ausreichend humanitäre Hilfsgüter in das Gebiet lassen, ist wohl auch kaum ein Zufall.
Andere Hilfsorganisationen haben wiederholt verdeutlicht, dass die Arbeit der UNRWA nicht einfach ersetzt werden kann. „Mit mehr Schulen, Kliniken, Lagerhäusern, Büros und Mitarbeitern als alle anderen UN-Organisationen zusammen ist UNRWA unersetzlich für das Überleben der Zivilisten“, so Jens Laerke, Sprecher des UN-Nothilfebüros UN-OCHA. Ganz offensichtlich will Tel Aviv seine Aushungerungskampagne gegen die Zivilbevölkerung, wegen der Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof unter Vorwurf des Völkermords klagt, trotz der seit dem 19. Januar geltenden Waffenruhe fortsetzen. Ein Gutachten des Schweizer Außenministeriums kommt zu dem Schluss, dass Israel, indem es die Arbeit des zentralen Akteurs für die Versorgung der Bevölkerung in besetztem Gebiet unterbinde, seine Pflichten als Besatzungsmacht gemäß den Genfer Konventionen verletze.
Der „Colonna“-Bericht enthielt 50 Empfehlungen, deren Umsetzung UN-Generalsekretär und UNRWA-Generalkommissar Lazzarini zusicherten. Für seine Anschuldigung, dass eine erhebliche Anzahl von UNRWA-Mitarbeitern Mitglieder terroristischer Organisationen seien, habe Israel jedoch keine Beweise vorgelegt, so der 54-seitige Abschlussbericht. Das 1949 von der UN-Generalversammlung gegründete Hilfswerk verfüge über umfangreiche Instrumente, um sicherzustellen, dass es in seiner Arbeit unvoreingenommen bleiben kann. Die israelische Regierung habe seit 2011 „keine Bedenken in Bezug auf UNRWA-Bedienstete mitgeteilt“. Allerdings hätten die israelischen Anschuldigungen gegen UNRWA zur (vorübergehenden) Aussetzung von Mitteln verschiedener Geberstaaten in Höhe von rund 450 Millionen US-Dollar geführt, was die Fähigkeit der UNRWA, ihre Arbeit fortzusetzen, erheblich behindert habe.