Feiern des Erreichten oder Protest gegen die Regierungspolitik – auch in diesem Jahr gab es am 1. Mai in ganz Lateinamerika große Kundgebungen und Demonstrationen. Allein in Kuba versammelten sich Hunderttausende, um gegen die jahrzehntelange Blockade durch die USA sowie gegen den Krieg Israels gegen die Bevölkerung Palästinas zu demonstrieren.
In Havanna war nicht wie sonst die Plaza de la Revolución am Fuße des Denkmals für José Martí der Schauplatz der Großkundgebung, sondern die Antiimperialistische Tribüne auf dem Malecón, direkt vor der US-Botschaft. Hintergrund dieser Entscheidung war die komplizierte wirtschaftliche Situation in Kuba, über die Ulises Guilarte de Nacimiento, der Generalsekretär des kubanischen Gewerkschaftsdachverbandes CTC, offen im Fernsehen sprach. Sie äußere sich in schweren Einschränkungen beim Warenangebot für die Bevölkerung, zunehmender Inflation und damit einhergehenden Preissteigerungen. „Als Gewerkschaftsbewegung widmen wir dieser Situation unsere besondere Aufmerksamkeit und prangern die Hauptursache an, die Verschärfung der von der US-Regierung einseitig über unser Land verhängten Blockade.“ Zugleich räumte er jedoch ein, dass die wirtschaftlichen Probleme auch in eigenen Fehlern begründet lägen, darunter einer in der Verwaltung noch immer vorzufindenden Überheblichkeit und mangelhafter Einsatzbereitschaft. Davon nahm er auch seine eigene Organisation nicht aus: „Wir sind uns der Kritik bewusst, die es an unserer Arbeit durch unsere Mitglieder gibt.“ Nicht immer fänden die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Gewerkschaft eine Vertretung ihrer Anliegen. „Das liegt nicht an den Gesetzen, die unsere Arbeit unterstützen, sondern mancherorts an nicht ausreichender Bildung neuer Kader oder dem Fehlen erfahrener Kader anderswo.“
Während in Kuba Regierung und Gewerkschaften gemeinsam an einer Überwindung der Krise arbeiten, setzt das ultrarechte Regime des argentinischen Staatschefs Javier Milei auf einen massiven Sozialkahlschlag, gegen den die Gewerkschaften des südamerikanischen Landes auch am 1. Mai mobil machten. Unter der Losung „Das Heimatland steht nicht zum Verkauf“ versammelten sich unter anderem in der Hauptstadt Buenos Aires zehntausende Menschen. Zeitgleich begannen die Gewerkschaften einen unbefristeten Streik in den Häfen des Rio Paraná, von denen aus die Getreideexporte des Landes in alle Welt gehen. Die Arbeiterbewegung wirft der Regierung vor, eine Politik zu betreiben, die nur dem reichsten ein Prozent der Bevölkerung nutzt, während Beschäftigte, Rentner und Jugendliche verarmen.
Ein gespaltenes Bild zeigte die Arbeiterbewegung Venezuelas. Hier war der 1. Mai von den im Juli bevorstehenden Präsidentschaftswahlen geprägt, bei der sich Staatschef Nicolás Maduro im Amt bestätigen lassen will. Er nutzte eine Großkundgebung seiner Anhänger, zu der die regierende Sozialistische Partei und von ihr kontrollierte Gewerkschaften aufgerufen hatten, um eine Steigerung des Mindestlohns für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes von 100 auf 130 Dollar im Monat anzukündigen – allerdings erneut in Form von Gutscheinen und nicht als reale Einkommenssteigerung. Deshalb werfen linke Gewerkschaften wie die der Kommunistischen Partei nahestehende FNLCT der venezolanischen Regierung vor, die Krise auf dem Rücken der arbeitenden Menschen lösen zu wollen und dabei einen Pakt mit der rechten Opposition einzugehen. Eine Kundgebung der linken Opposition in Caracas wurde von Maskierten auf Motorrädern überfallen, mehrere Menschen wurden verletzt. Die Kommunisten forderten außerdem die Freilassung von Gewerkschaftern, die Korruption im staatlichen Erdölkonzern PDVSA angeprangert hatten und deshalb inhaftiert wurden. Inzwischen räumt auch die Regierung die Korruptionsfälle ein, mehrere hochrangige Beamte, unter ihnen ehemalige Minister, wurden festgenommen.
In Bogotá solidarisierten sich die Gewerkschaften mit der Regierung des linken Präsidenten Gustavo Petro. Ihr Protest richtete sich gegen die Mehrheit der Parlamentsparteien, die das Reformprogramm des Staatschefs blockieren. Petro selbst nutzte seine Ansprache auf der zentralen Kundgebung, um den Abbruch der diplomatischen Beziehungen Kolumbiens zu Israel anzukündigen. Der Staat habe „eine Regierung und einen Präsidenten, die Völkermörder sind“, erklärte der Präsident. „Wenn Palästina stirbt, stirbt die Menschheit. Aber wir werden es nicht sterben lassen, wie wir auch die Menschheit nicht sterben lassen!“
Auch in Santiago de Chile schlossen sich mehrere Minister der Regierung der Maidemonstration des Gewerkschaftsbundes CUT an, bei der höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen gefordert wurden. Zu ihnen gehörte Arbeitsministerin Jeannette Jara, die eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 500.000 Pesos (etwa 500 Euro) zum 1. Juli ankündigte: „In einem Land, in dem der Mindestlohn vor zwei Jahren noch 350.000 Pesos betragen hat, ist das eine bedeutende und historische Erhöhung.“