Kultursplitter

Tag der Befreiung

Bei Bertolt Brecht und Victor Klemperer finden sich Eintragungen, die genau an diesem Tag geschrieben wurden. Brecht führte über viele Jahre ein „Arbeitsjournal“, er notiert am 8. Mai 1945, im Exil lebend: „und als dann kam der monat mai, war ein tausendjähriges reich vorbei.“ Und einige Zeilen weiter schreibt er: „die wicken blühten. die hähne schwiegen betroffen. die türen waren geschlossen. die dächer standen offen.“

Victor Klemperer schrieb seine akribischen Tagebücher seit 1933. Als „Geltungsjude“ ständig drangsaliert und schikaniert, erlebten er und seine Frau das Kriegsende in Oberbayern. Er notiert sich unter dem Datum 8. Mai 1945 unter anderem: „Aus weiter Ferne hört man immer noch von Zeit zu Zeit Geschützfeuer, Verbände und Aufklärer überfliegen uns beinahe stündlich, es heisst – ‚es heisst‘, Gerücht über Gerücht –, im Gebirge kämpften noch Einzelgruppen … Wir sprechen mit den Heimkehrern; sie wissen alle auch nichts anderes als Gerüchte. Der Krieg zwischen USA und Russland spielt darin immer noch seine Rolle. Gestern sprach ich zwei, die sagten ‚Der Amerikaner schon – aber wie wird es mit dem Russen sein?‘ … Ich: Er tue dem gemeinen Mann nichts. Nur den Offizieren und der SS. Pause, dann mit (verlegenem?) Lachen: ‚Von der SS sind wir nicht.‘“

Filme online sehen

Das hervorragende Programmkino „Arsenal“ in Berlin musste wie alle anderen Kinos auch die Türen schließen. Sie haben sich etwas Tolles ausgedacht und bieten aus ihrer umfangreichen Sammlung eine ganze Menge Filme an, die sich mit der Lohnarbeit und den Arbeitskämpfen weltweit beschäftigt haben. Insgesamt 21 Filme kann man nun zu Hause streamen, drei Filme seien hier exemplarisch vorgestellt:

„Für Frauen“ von Cristina Perincioli, BRD 1971. Gleiches Geld für gleiche Arbeit! Die vier weiblichen Angestellten eines Westberliner Supermarktes treten in den Streik, um die gleiche Entlohnung durchzusetzen, die ihr männlicher Kollege erhält. „Ton Steine Scherben“ singen dazu: „Alles verändert sich, wenn du es veränderst, doch du kannst nicht gewinnen, solange du allein bist.“ Mit Laien besetzt, erfüllt der Film die Forderung nach der Solidarität, die er propagiert, denn dieser Film wurde von den Verkäuferinnen und Hausfrauen gemacht. Sie haben sich die Geschichte selbst ausgedacht und gespielt. Die Filmemacherin hat ihnen nur dabei geholfen.

„Tambaku Chaakila Oob Ali“ vom Filmkollektiv Yugantar, Indien 1982. Dieser Film dokumentiert eine der größten Arbeiterinnenbewegungen der damaligen Zeit – eine Initialzündung zur Bildung von Gewerkschaften in ganz Indien. Vier Monate verbrachte das Yugantar-Kollektiv mit Arbeiterinnen einer Tabakfabrik in Nipani, ließ sich von den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen erzählen und diskutierte Strategien der gewerkschaftlichen Organisation. Die bis dahin undokumentierten Zustände im Inneren der Fabriken konnten gefilmt werden.

„Ein proletarisches Wintermärchen“ von Julian Radlmaier, BRD 2014. Drei junge Georgierinnen müssen im Auftrag eines Gebäudereinigungsunternehmens ein Berliner Schloss putzen, in dem am Abend die Sammlung zeitgenössischer Kunst eines deutschen Rüstungsunternehmens präsentiert werden soll. Bei diesem Anlass sind sie unerwünscht und werden in eine Dachkammer verbannt. Unten jedoch lockt ein köstliches Buffet – warum sich nicht einfach über dieses ungerechte Ausgangsverbot hinwegsetzen, die räumlichen Demarkationslinien der Klassengesellschaft übertreten? Die drei versuchen, eine Antwort auf die Fragen zu finden, ob sich Klassenverhältnisse überwinden lassen – wo doch alle überlieferten Geschichten dagegen sprechen.

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"Kultursplitter", UZ vom 8. Mai 2020



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