Im Alter von 85 Jahren starb Silvia Holz-Markun am 14. November 2023. Als Journalistin arbeitete sie für verschiedene Schweizer Zeitungen. Sie interviewte Pier Paolo Pasolini und Federico Fellini, berichtete aber auch vom Kampf der Tupamaros in Uruguay oder der Indigenen in Brasilien. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem marxistischen Philosophen und Kunstkritiker Hans Heinz Holz, gründete sie 1991 eine Stiftung zur Förderung philosophischer Studien. 2009 erschien eine Auswahl ihrer Reportagen unter dem Titel „Streifzüge im Unbekannten“. Wir veröffentlichen in dieser UZ-Ausgabe einen – redaktionell geringfügig bearbeiteten – Auszug aus ihrem 2010 erschienenen Buch „Hans Heinz Holz und Ernst Bloch – System und Fragment“, in dem sie sich mit der antifaschistischen Arbeit Blochs im Exil auseinandersetzt. Beide Bücher sind nur noch antiquarisch erhältlich.
Die Jahre des Exils waren natürlich nicht nur schwer als solche der geistigen Abgeschiedenheit. Vor allem und zuerst waren sie für die meisten Emi-granten Jahre der bitteren Not, der Sorge ums tägliche Brot, des Drucks der Fremdenpolizei, der Furcht vor den Faschisten. Nur wenige, schon international bekannte Schriftsteller konnten sich auch im Ausland fortdauernde Einnahmen aus ihren Werken sichern. Die meisten – und das gilt besonders für die Philosophen und die Literaturkritiker – waren auf die kargen Honorare aus den wenigen deutschsprachigen Zeitschriften der Emigranten angewiesen und bedurften meist der nur selten gewährten Unterstützung aus Stiftungen und Hilfsfonds. Für sozialwissenschaftliche Forscher wurde das erst nach Frankreich und dann nach den USA emigrierte Institut für Sozialforschung unter der Leitung von Max Horkheimer zur willkommenen Arbeits- und Verdienstmöglichkeit. Die Vorgänge um Walter Benjamin zeigten allerdings, dass Horkheimer seine finanzielle Macht auch zu inhaltlichen und politischen Zensuren ausnutzte. Der vehemente Antikommunismus, der mehr und mehr die Equipe des Instituts zu beherrschen begann, führte dazu, dass Horkheimer und Adorno sich nicht bereit fanden, Bloch im Rahmen des Instituts einen dotierten Auftrag zu geben. Adorno, der mit Bloch seit 1928 befreundet war, schämte sich wohl dieser Treulosigkeit; er veröffentlichte jedenfalls 1942 einen Aufruf in der New Yorker Zeitschrift „Aufbau“, in dem er Blochs Notlage schilderte und Unterstützungsspenden anregte. Dies bedeutete für Bloch wohl eher einen demütigenden Schritt, besonders da Adorno dabei fälschlich behauptete, Bloch habe seinen Lebensunterhalt als Tellerwäscher verdienen müssen und sei wegen zu langsamem Arbeitstempo entlassen worden.
In Wirklichkeit hat Blochs Frau Karola, diplomierte Architektin, durch ihre Arbeit die Subsistenzbedingungen der dreiköpfigen Familie sichergestellt.
„Erbschaft dieser Zeit“
Wenn auch, wie das Beispiel des Instituts für Sozialforschung zeigt, die solidarische Einheit der Antifaschisten nicht einmal angesichts der Hitler-Gefahr Bestand hatte, sobald größere Interessen ins Spiel kamen, so blieb doch deren Bündnis über die Zeit des Zweiten Weltkriegs hin eine politische Notwendigkeit. Daran war für den Marxisten Bloch kein Zweifel. Das Programm der Zusammenfassung aller Kräfte – der kommunistischen, sozialdemokratischen und bürgerlich-demokratischen – im Widerstand gegen den Faschismus wurde 1935 auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale (Komintern) aufgestellt. Georgi Dimitroff, der Held des Leipziger Reichstagsbrandprozesses, der unerschrocken vor dem Reichsgericht die nationalsozialistischen Verbrechen gebrandmarkt hatte, gab in seinem großen Bericht vor dem Kongressplenum die Richtung an: Alle unterdrückten Klassen sollten in einer Einheitsfront gegen das terroristische Regime des Finanzkapitals mobilisiert werden, Bündnisse sollten auch mit jenen eingegangen werden, die sich – der faschistischen Vernebelungsstrategie zum Opfer gefallen – auf die Seite ihrer Unterdrücker geschlagen hatten. Da der Faschismus, nach Dimitroffs Analyse, zwar „eine Diktatur der Großbourgeoisie ist“, aber sich zugleich „zum Alleinvertreter aller Klassen und Schichten der Bevölkerung, des Fabrikherrn und des Arbeiters, des Millionärs und des Arbeitslosen, des Junkers und des Kleinbauern, des Großkapitalisten und des Handwerkers“ erklärt, muss sich jedes faschistische Regime zugleich auf Terror und Demagogie stützen, um seine „außerordentlich uneinheitliche soziale Basis“ zusammenzuhalten. Demagogische Irreführung gehört daher wesentlich zur Physiognomie des Faschismus: „Der Faschismus entfacht nicht nur in den Massen tief wurzelnde Vorurteile, er spekuliert auch auf die besten Gefühle der Massen, auf ihr Gerechtigkeitsgefühl und mitunter sogar auf ihre revolutionären Traditionen. (…) Die Faschisten durchstöbern die gesamte Geschichte jedes Volkes, um sich als Nachfolger und Fortsetzer alles Erhabenen und Heldenhaften in seiner Vergangenheit aufzuspielen, und benützen alles, was die nationalen Gefühle des Volkes erniedrigte und beleidigte, als Waffe gegen die Feinde des Faschismus.“ Es war darum eine zentrale Aufgabe im antifaschistischen Kampf, den Faschisten die Berufung auf das nationale Kulturerbe streitig zu machen, das sie für ihre Zwecke benutzt hatten. 1935 – im Jahre des VII. Weltkongresses – erschien „Erbschaft dieser Zeit“, eine Sammlung von Einzelbeobachtungen zur Ideologie der Zeit, mit einer grundsätzlichen Analyse unter dem Titel „Ungleichzeitigkeit und Pflicht zu ihrer Dialektik“. Es sind Versuche, ideologische Schichten zu sondern und aus dem Wust der weltanschaulichen Surrogate des niedergehenden Bürgertums jene Momente herauszuheben, die mit positiven Traditionen des Kulturerbes zu besetzen waren. Kein Stück Kultur den Nazis kampflos zu überlassen, ambivalente Bewusstseinsinhalte in die richtige Richtung zu lenken, war die Intention. Blochs kulturkritische Aufsätze, soweit sie schon vorher erschienen waren, sind Beiträge zu jenem Erkenntnisprozess, der den VII. Weltkongress vorbereitete. Mit Berufung auf Dimitroff konnte er im Juni 1936 die Kritik zurückweisen, die Hans Günther in der „Internationalen Literatur“ an ihm geübt hatte. „Erbschaft dieser Zeit“, so insistierte Bloch, mache die objektiven Bedingungen von sehr subjektiven Bewusstseinslagen deutlich und ermögliche so, diese zu verändern: „Als Hauptmoment der bäuerischen und weithin der kleinbürgerlichen Abkapselung, auch Fehlreaktionen auf die Krise, wurde in der ‚Erbschaft‘ der relative Anachronismus dieser Schichten erkannt. Die Produktionsweise wie das ideologische Bewusstsein der Kleinbauern, Kleinproduzenten, Kleinhändler ist in wesentlichen Teilen überaltert, weist in wesentlichen Zügen den Habitus früherer Jahrzehnte, ja Jahrhunderte auf. Der Widerspruch dieser Schichten zum ‚System‘ ist also dumpf; er ist nicht nur Unwissenheit, wie sie aus ihrer Stellung im Produktionsprozess erfolgt und durch geduldige Aufklärung zu verbessern ist, er ist ebenso durch einen anachronistischen Graben vom Jetzt getrennt.“ Aber es geht dabei nicht nur um Abgestandenes, das zu entlarven ist, sondern auch um Unerledigtes, das man in die Zukunft überführen kann. Denn der Faschismus hat nichts, was ihn glaubwürdig macht, er muss es sich borgen: „Der Klasseninhalt der Nazis ist nicht schön genug, um ihn zu sagen: Schutz des Kapitals, Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs (…) Faschistische Propaganda hat derart die gesamte menschliche Vermissung zum Faktor seiner Verführungslüge gemacht: Hier vor allem machte der Nazi Eindruck, hier gab er sich als Retter und einzig wahren Jakob aus. Das aber hätte nicht entfernt im gleichen Maß gewirkt, hätten die echten Revolutionäre dies Feld besetzt gehalten, wären sie einer spezifischen und sehr komplizierten, wenn auch minderen Wirklichkeit geneigter gewesen, der des falschen Bewusstseins.“ Dies deckt sich mit Dimitroffs Einschätzung, die auch von Palmiro Togliatti unterstützt wurde: „Eine der schwächsten Seiten des antifaschistischen Kampfs unserer Parteien besteht in der ungenügenden und nicht rechtzeitigen Reaktion auf die Demagogie des Faschismus und die bis auf den heutigen Tag andauernde Unterschätzung des Kampfs gegen die faschistische Ideologie.“ Sollte das theoretische Konzept einer Volksfrontpolitik ausgefüllt werden, so wäre die seit langem fundierte Behandlung des Erbschaftsproblems durch Bloch dessen unentbehrlicher Teil. Dies zeigt sich an seiner regen publizistischen Aktivität in den deutschsprachigen Emigrantenzeitschriften zwischen 1934 und 1939: Aufsätze, die in der Fortsetzung von „Erbschaft dieser Zeit“ geschrieben wurden, das politische und kulturelle Tagesgeschehen begleitend, Zeugnisse eines ungebrochenen Angriffsgestus in der Verteidigungsstellung der Emigration.
Die Expressionismus-Debatte
Bereits in „Erbschaft dieser Zeit“ hatte Bloch die Frage gestellt, was am Expressionismus progressiv und beerbenswert sei; dort allerdings an Beispielen und noch nicht namentlich und ausdrücklich auf den Expressionismus als Stilbewegung und Weltanschauungshaltung bezogen. 1935 war Georg Lukács’ kritische Abrechnung „Größe und Verfall des Expressionismus“ in der „Internationalen Literatur“ erschienen. Lukács versuchte, den Expressionismus insgesamt im Umkreis der USPD-Ideologie anzusiedeln und ihn aus der Perspektive der Frontstellung des Klassenkampfs als literarische Parallele zum „Novemberverrat“ der Sozialdemokratie zu deuten. Von da zieht er eine gerade Linie zum Nationalsozialismus: „Zu der allgemeinen ‚November-Erbschaft‘ des Nationalsozialismus gehört also mit Recht auch der Expressionismus. Denn er weist, trotz aller hochtrabenden Gesten, nicht über den Horizont des ‚Weimar‘ von 1918 hinaus. Wie der Faschismus die notwendige Folge des Novemberverrats ist, so kann er auch literarisch das ‚November-Erbe‘ antreten.“ Sicher ist diese Einschätzung nicht unbeeinflusst von der Charakterisierung der SPD als „Sozialfaschisten“ und steht konträr zu dem Konzept einer breit angelegten Volksfront: Sollten in diese auch die antiimperialistischen bürgerlichen Schichten einbezogen werden, so durften die bürgerlichen Oppositionsideologien nicht einfach zum Faschismus geschlagen, sondern mussten kritisch gesichtet und verwandelnd angeeignet werden.
Der vehement polemische Essay des Jugendfreundes traf Bloch ebenso persönlich (in seiner Verbindung zur expressionistischen Bewegung) wie politisch (in seiner Konzeption der Verwertung des bürgerlichen Erbes auch noch der Gegenwart). In seiner Rede auf dem Pariser Schriftstellerkongress 1935 versuchte er, unter kritischer Abwehr der Bodenlosigkeit und Wirklichkeitsferne im Expressionismus dessen Intention auf Freisetzung von Phantasie und Traum als unverzichtbares Moment auch einer marxistischen Kunst festzuhalten. Die Wendung gegen die im „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ (BPRS) vertretenen naturalistischen und antiartistischen Tendenzen ist deutlich. Doch eine direkte Antwort an Lukács stand noch aus. Bloch gab sie 1937 in der „Neuen Weltbühne“ im ersten seiner drei Expressionismus-Aufsätze. Der Anlass war die von den Nazis veranstaltete Ausstellung „Entartete Kunst“. „Auch Marxisten wie Lukács haben dem Expressionismus in Bausch und Bogen ein wenig kenntnisreiches Etikett aufgeklebt. Sie denunzieren ihn als ‚Ausdruck kleinbürgerlicher Opposition‘, ja sogar, völlig schematisch, als ‚imperialistischen Überbau‘. Aber Marc, Klee, Chagall, Kandinsky kommen in dem Klischee ‚Kleinbürgertum‘ kaum unter, und am wenigsten, wo dieses Klischee Spießertum, bestenfalls raunzendes, bezeichnen soll. Und selbst wenn hier nichts als kleinbürgerliche Opposition wäre (man wünscht sich, den Kleinbürger kennenzulernen, dem Marcs ‚Turm der blauen Pferde‘ sein Ausdruck ist): Was steht dem Kleinbürger Besseres zur Verfügung als bestenfalls – Opposition (und gar solche)? Dass aber der Nazi sich nachher, gelegentlich, in der Anfangszeit, expressionistische Literaturreste beibog (Benn) oder Thingspielindustrie daraus machte (Euringer), daran ist nicht Marcs ‚Imperialismus‘ schuld, sondern des Goebbels‘ Sinn für wirkungsvolle Falsifikate (fast gleich, woran sie geschehen). Und eben Hitlers letzte Attacke beweist, dass selbst die sogenannte ‚kleinbürgerliche Opposition‘ nicht immer so verächtlich sein mag.“
Die Schärfe des Angriffs und des Gegenangriffs verwundern den späteren Leser. Gab es angesichts der faschistischen Bedrohung, die sich im spanischen Bürgerkrieg höchst aktuell zeigte, nichts Wichtigeres als einen Literaturstreit? Wer so fragen würde, unterschätzte die Bedeutung des Expressionismus für die linksbürgerliche Ideologie, von der aus viele Autoren, bildende Künstler, Theaterleute den Weg zu einer positiven Aufnahme der Oktoberrevolution und zur Identifikation mit der Sowjetunion gegangen waren. Wer sich wie Bloch zum Kommunismus bekannte, für den musste es ein zentrales Problem seines Selbstverständnisses sein, wenn er von dem führenden kommunistischen Literaturkritiker in die präfaschistische Linie eingereiht wurde.