Peter Michel:
Künstler in der Zeitenwende
Biografische Miniaturen und
ein Prolog vonArmin Stolper
Verlag Wiljo Heinen, 38,- Euro
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Der eigene Blick. Ein Epilog
Unter diesem Titel zeigte die Berliner Sektion der Kunstwissenschaftler des Verbandes Bildender Künstler im Ephraim-Palais eine Ausstellung. Sie taucht in den einzelnen Texten dieses Buches hier und dort auf, weil sie ganz bewusst subjektive Sichtweisen auf Kunst und Künstler in den Mittelpunkt stellte. Zehn Kunstkritikern wurde im November und Dezember 1988 die Möglichkeit gegeben, in ein oder zwei Räumen Werke auszustellen – unter der Bedingung, ihre Auswahl in einem Katalogtext zu begründen. Diese Zehn gehörten unterschiedlichen Generationen an und vertraten teilweise sehr unterschiedliche Auffassungen. Das war die natürliche Folge der Entwicklung einer Kunstszene, die sich in den vorangegangenen Jahren zunehmend vielfältiger und individueller ausgeprägt hatte. In den Räumen des nach 1980 rekonstruierten Rokokogebäudes im Berliner Nikolaiviertel war nichts zu sehen von sozialistisch-realistischer Einheitskunst, wie sie ein bis zwei Jahre später mit dem beginnenden „Bilderstreit“ von westlichen Meinungsmachern unterstellt wurde.
Der Disput, der sich nach der Eröffnung des „Eigenen Blicks“ abspielte, war für das Ende der Achtzigerjahre nahezu typisch. In einer Rezension hatte Dietmar Eisold, Kunstkritiker der Zeitung „Neues Deutschland“, die Toleranz älterer Kunstwissenschaftler – wie Hermann Peters, Helmut Netzker, Klaus Weidner und Peter Michel – hervorgehoben und sie der auftrumpfenden Einseitigkeit anderer gegenübergestellt. Das rief den Protest Jüngerer hervor. Der damalige Vorsitzende des Berliner Bezirksverbandes Bildender Künstler, Ronald Paris, bemühte sich um Ausgleich. Doch bald gehörten einige der Engherzigen, die stets selbst Toleranz gefordert hatten, zu den intoleranten Akteuren einer gnadenlosen Kampagne gegen die „Kunst des Staatssozialismus“. Natürlich hatten sie Recht mit ihrer harten Kritik an der immer wiederkehrenden Enge einer Kulturpolitik, die am Ende hilflos angesichts der realen Prozesse war. Aber sie bemerkten nicht, dass sie selbst mehr und mehr zu Dogmatikern neuen Typs wurden. Sie standen im „Bilderstreit“ der Neunzigerjahre oft auf der Seite importierter Besserwisser, und nur wenige von ihnen bekannten später offen, damit einen Fehler gemacht zu haben. Peter Hacks hatte schon am 24. Mai 1978 in einem Brief an Friedrich Dieckmann von einem „Spezialistentum“ geschrieben, „welches sich für Geist hält und seine ganze Kraft aus seiner Borniertheit bezieht“. Was hier einen einzelnen Kritiker meinte, wiederholte sich nach 1989/90 auf Staatsebene.
Meine Haltung hat sich seit dieser Ausstellung kaum verändert. In meinem Katalogtext hatte ich betont, Kunst müsse die Fähigkeit haben, die Menschen zu bewegen, weil sie – wie Brecht formulierte – selbst von den Schicksalen der Menschen bewegt wird. Sie müsse auf einem soliden handwerklichen Boden gewachsen sein und zur Betroffenheit ebenso wie zum Genuss führen können. „Ich achte Künstlerkollegen, die ‚vom Leben selbst besessen‘ sind, denen ‚die Wirklichkeit das liebste Motiv und die verlässlichste Stütze ist‘“, schrieb ich damals. „Eigene Wertvorstellungen schließen Offenheit gegenüber allem ein, was sich – in welcher Form auch immer – als sinnvoll für unsere Gesellschaft und unsere Kunst erweist. Halten wir es mit Alexander Blok: ‚Das Verhalten zur Kunst muss voll Ruhe, Ernst, ohne Hast und Reklamehaftes sein‘. Und das Verhältnis des Kunstkritikers zum Künstler sollte das eines Freundes sein, dem die Sympathie für den Gegenstand die notwendige kritische Sicht nicht versperrt.“
Mit solch eigenem Blick sind die Texte dieses Buches entstanden. Sie sind ein Versuch, aus den Erinnerungen an Einzelne ein annähernd Ganzes zu machen, eine Sicht auf eine reiche Kunst, in der Künden und Können zusammengehörten, die gebraucht und geachtet wurde. Die Auswahl ist bewusst subjektiv und erhebt keinen Anspruch – weder auf Vollständigkeit noch auf Repräsentanz. Die alphabetische Reihung vermeidet bewusst eine Rangfolge. Viele Persönlichkeiten fehlen, obwohl sie mir ebenso wichtig sind. Eine ganze Reihe von ihnen spielt in den Einzeltexten eine Rolle, doch manche bedürften einer längeren Zuwendung. Dazu gehört Herbert Sandberg, der Buchenwaldhäftling und Grafiker, der mir mit seinen z. T. bitteren Erfahrungen als abgelöster Chefredakteur der „Bildenden Kunst“ die ersten Schritte in dieser Funktion erleichterte; Wolfgang Mattheuer, der gemeinsam mit seiner Frau Ursula Mattheuer-Neustädt, Gerhard Kettner und mir in den Siebzigerjahren in der Wiener Sezession anlässlich einer DDR-Kunstausstellung eine Podiumsdiskussion bestritt, der immer ein kritischer Geist war, nicht nur in der DDR, sondern auch nach dem „Anschluss“. Auch Arno Mohr, der „Minimalist“, exzellente Grafiker, Maler und Hochschullehrer, zählte dazu; Harald Kretzschmar, der unermüdliche Karikaturist und Publizist; Hans Vent, der mit Karl-Georg Hirsch und mir die Krakauer Graphik-Biennale besuchte; Werner Stötzer, der die Arbeit am Stein in den Mittelpunkt stellte; Joachim John, der erst kürzlich in einem Verzweiflungsakt seine Bilder verbrannte, weil er niemanden fand, der sie brauchte; Clauss Dietel, der international geachtete Formgestalter, der es in der DDR schwer hatte mit seinen Ideen, der nach Willi Sitte letzter Präsident des Verbandes Bildender Künstler war und 2014 als erster ostdeutscher Produktgestalter den Designpreis der Bundesrepublik Deutschland für sein Lebenswerk erhielt. (…)
Beim Schreiben bewegte mich ständig die Frage nach der künstlerischen Substanz und danach, wie es heute damit aussieht. Natürlich gibt es neue Medien. Doch vieles verflacht, kommt großmäulig daher, wird hochmanipuliert und in schnellem Wechsel auf den Kunstmarkt geworfen. Schon Arthur Schopenhauer bemängelte, bezogen auf die Literatur, dass die Leute statt des Besten aller Zeiten immer nur das Neueste lesen und dass dadurch das Zeitalter ständig tiefer im eigenen Dreck verschlammt. Werner Steinberg zitiert in seinem Roman „Der Tag ist in die Nacht verliebt“ einen Satz des Berliner Universitätsprofessors Gubitz im Gespräch mit dem Studenten Heinrich Heine: „Die jungen Leute glauben, genial sein zu müssen. Ihnen fehlt die Arbeit, die Feile, die Mühe der künstlerischen Produktion.“
Im August 2014 besuchten Maria und ich – wie schon in den Vorjahren – die Diplomausstellung der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Was wir sahen, waren zwei Gemälde, die gekonntes Handwerk verrieten. Ansonsten dominierten Gerhard-Richter- oder Wolf-Vostell-Verschnitte, bedeutungsschwangere, stümperhafte Environments, Zeichnungen auf Grundschulniveau, Nichtbeherrschung einfachster Kompositionsregeln …, also dilettierendes „Machenlassen“. Das sei eben die neue Kunst, wurden wir mit einem nachsichtigen Lächeln von einem Studenten belehrt. Wenn nur das „Neue“ tatsächlich neu gewesen wäre! Man erwartet in einer Diplomausstellung keine Wunder. Dass aber gerade in Dresden eine lange Tradition außergewöhnlicher Malkultur keine Rolle mehr spielt, ist erschreckend. Der Leser möge dieses Buch auch als Plädoyer gegen allumfassende Maßstablosigkeit verstehen, der man die Aureole der Freiheit überstülpt. Noch einmal Peter Hacks: „Man hat doch auch schon erlebt, dass eine Sache Kunstfreiheit hieß und eigentlich Freiheit von Kunst war.“ (…)
Werner Tübke
Die Münchener Künstlergruppe „tendenzen“ und ihre gleichnamige Zeitschrift folgen 1984 einer Einladung des Monatsjournals „Bildende Kunst“. Im Gästehaus des Verbandes Bildender Künstler auf einem Weinberg bei Naumburg treffen wir uns. Es gibt Gespräche mit Künstlern, Kunstwissenschaftlern und Auftraggebern aus der DDR, Besuche in Ateliers und Betrieben. Wir tauschen uns aus über Formen und Erscheinungen des Realismus, über die ausgedehnten Grenzen unserer Kunst in den Siebziger- und Achtzigerjahren, über „Weite und Vielfalt“, die immer wieder durch dogmatisch Denkende in Frage gestellt, aber ständig selbstbewusster verteidigt wird.
Zum Programm gehören auch Exkursionen. Ein Wissenschaftler der Universität Halle führt uns zu den Burgen und Schlössern in Querfurt und Freyburg, zur Rudelsburg bei Bad Kösen, zur Kaiserpfalz Memleben, zur CDU-Bildungsstätte im Barockschloss Burgscheidungen[1] und in den Naumburger Dom. In der Kapelle des Schlosses Allstedt sehen wir die Kanzel, von der aus Thomas Müntzer am 13. Juli 1524 seine Fürstenpredigt gegen die Willkür der weltlichen und geistlichen Obrigkeit hielt. Und in der Wasserburg Heldrungen stehen wir im bedrückend niedrigen Tonnengewölbe, in dem Thomas Müntzer nach der verlorenen Schlacht bei Frankenhausen gefangen gehalten, verhört und gefoltert wurde und wo er seine letzten Schriften verfasste, bevor ihn die damaligen Sieger vor der Stadtmauer von Mühlhausen hinrichteten. So sind wir eingestimmt auf die Besichtigung des in Arbeit befindlichen Panorama-Gemäldes von Werner Tübke.
Er empfängt uns in dem zum Atelier gewordenen riesigen Rundbau auf dem Schlachtberg. Sein rechter Arm ist geschient und fest umwickelt. Ein Muskelfaserriss hat ihn gezwungen, seine Arbeit zu unterbrechen. Er erscheint reserviert und macht manchmal den Eindruck von Unnahbarkeit. Die Ruhestörung nimmt er wohl als notwendiges Übel. Doch im Lauf des Gesprächs wird er offener, weil er die hohe Achtung spürt, die ihm die Gäste entgegenbringen. Seine Helfer und Assistenten sind weniger geworden. Mancher, der sich ihm in seiner Malweise schlecht unterordnen konnte, hat ihn verlassen. Am Ende sind es nur noch zwei, die ihm zur Seite stehen. Die Arbeitsbelastung wird für Werner Tübke immer größer.
Dennoch sind die ersten Szenen des Rundbildes fertig. Die malerische Dichte überrascht und ruft Bewunderung hervor. Der größte Teil ist noch bedeckt mit der linearen Vorzeichnung, die von der 1:10-Fassung des Bildes „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“ mittels Folien und Episkop auf die 1 722 Quadratmeter große Leinwand übertragen wurde. Die Malerei, die schon zu sehen ist, konnte nicht einfach – wie bei einem Bühnenprospekt – in das große Format projiziert werden. Werner Tübke erklärt die neuen Probleme der farbigen Gestaltung, denn die andersartigen Bedingungen der Betrachtung im Rundbau sind zu berücksichtigen. Alle folgen ihm gespannt, denn solcherart lebendige Lektion vor dem größten auf Leinwand entstehenden Bild der Welt ist für alle neu. Werner Tübke spricht auch darüber, weshalb er sich nicht für die traditionelle Form eines Panoramas entschied, denn er will keinen bestimmten, genau fixierten Ausschnitt aus dem Gemetzel auf dem Schlachtberg am 14. und 15. Mai 1525 darstellen. Es geht ihm um seinen Blick auf eine ganze Epoche, um eine assoziative Kombination von Szenen, Teilbildern und Teilräumen, die ein Gegen- und Miteinander von Figuren, Ereignissen und geistigen Haltungen erlebbar macht. Es entsteht – wie der Leipziger Kunsthistoriker Karl Max Kober schrieb – ein „teatrum mundi“, ein Welttheater, ein komplexes Bild des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit. Eine Frage folgt der anderen. Werner Tübke bezeichnet sich als Maler, dem der Sinn für historische Distanz fehlt; die Menschheit habe viele Tausend Jahre gebraucht, um sich auf den Höhepunkt der Renaissance hochzuarbeiten; im 19. Jahrhundert habe ein Formzerfall eingesetzt, dem er sich nicht anschließen wolle. Auch als dazu Widerspruch laut wird, bleibt er dabei. Nach langem Gedankenaustausch und intensiver Fachsimpelei folgt ein herzlicher Abschied.
Aber dieses Erlebnis bewegt auf der Rückfahrt zum Gästehaus und bei abendlichen Gesprächen weiter die Gemüter. Wie kommt ein Maler im 20. Jahrhundert zu solch einer Haltung? Woher nimmt er die Kraft, ein solches Mammutprojekt als einen Glücksfall zu begreifen und über so viele Jahre durchzustehen? Ich spreche über wichtige Etappen seiner Biografie, über seine wohlbehütete Kindheit in Schönebeck an der Elbe, über den privaten Zeichenunterricht, den er schon als Zehnjähriger 1939 bei dem Maler Karl Friedrich begann, über seine Malerlehre ab 1945, seine gleichzeitige Ausbildung an der Meisterschule des Deutschen Handwerks in Magdeburg und sein reguläres Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig bei Elisabeth Voigt, Walter Arnold und Ernst Hassebrauck. Wichtig für seine Entwicklung waren auch ein dreijähriges Studium an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald in den Bereichen Kunsterziehung und Psychologie und eine Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralhaus für Laienkunst Leipzig. Alles das zeugt von Zielbewusstheit, von einer klaren Vorstellung über den künstlerischen Werdegang, von angehäuftem Wissen. Die alten Meister – vor allem aus der Renaissance und dem italienischen Manierismus – werden zu seinen Leitfiguren. Er wird zum brillanten Zeichner, der seine Malerei nicht aus Farbfeldern heraus entwickelt, sondern von der gezeichneten Linie her. Und weil solche Fähigkeiten vor allem in der Ausbildung von Kunststudenten gebraucht werden, arbeitet er schon 1956/57 als Oberassistent, ab 1963 als Dozent und von 1972 an als Professor an der Leipziger Hochschule. Von seinen Studenten verlangt er nicht nur künstlerische Begabung, sondern auch Disziplin. Von 1973 bis 1976 ist er Rektor. Danach beginnt bereits die Arbeit am Stoff des Panorama-Bildes. Wir haben ihn also in Bad Frankenhausen zu einem Zeitpunkt kennengelernt, an dem er sich schon acht Jahre damit beschäftigte.
Zu den Arbeiten, die mich bis dahin am meisten beeindruckt haben, gehören das „Bildnis des Viehzuchtbrigadiers Bodlenko“, ein „Selbstbildnis mit schwarzem Hut“, vor allem aber sein „Sizilianischer Großgrundbesitzer mit Marionetten“. Die Freunde aus München stimmen mir zu, als ich sage, dass sich in diesem Bild mit seiner morbiden Pracht die aus der Kunstgeschichte angeeigneten Formen am besten zur Charakterisierung des Dargestellten eignen, so wie sie auch im Panoramabild zur Kennzeichnung eines Zeitalters die geeignetsten Mittel sind. Bei anderen Werken habe ich manchmal Zweifel, und bei vielen Selbstbildnissen bin ich mir nicht sicher, ob hier nicht bei allem zur Schau gestellten Selbstbewusstsein eine Ironie im Spiel ist, die von sich selbst nichts weiß. Über mein Verhältnis zu Tübke sage ich, es sei von gegenseitiger Achtung geprägt; unser Briefwechsel sei bei aller Sachbezogenheit aber meist distanziert und beinahe kühl. Einig sind wir uns alle, dass wir es mit einem großen Künstler zu tun haben, der in der deutschen Kunstgeschichte seinen Platz behaupten wird.
Am letzten Abend sitzen wir im Weinberg bei einem Glas Silvaner, Gutedel oder Traminer beisammen und erleben, wie die Strahlen der untergehenden, immer noch flammenden Sonne die von Bitterfeld und Leuna herströmende, staubige Luft durchdringen. Das Tal, in dem Naumburg liegt und Saale und Unstrut zusammenfließen, verschwimmt langsam in einem lebendigen Dunkel.
[1] Diese Bildungsstätte wurde 1990 geschlossen. Eine Gedenktafel für die von den Nazis umgebrachten Christen wurde von der Treuhand entfernt. Das Schloss befindet sich wieder in Privatbesitz.