Am vergangenen Sonntag startete der ver.di-Bundeskongress, der bis zum 22. September in Berlin stattfindet. Die etwa 1.000 Delegierten mussten jedoch erst Reden von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Berlins Bürgermeister Kai Wegner über sich ergehen lassen, bevor ver.di-Vorsitzender Frank Werneke den Geschäftsbericht für die vergangenen vier Jahre vorstellen konnte. In der Aussprache dazu meldeten sich vor allem Kolleginnen und Kollegen zu Wort, die ver.di als eigenständige Kraft verstanden wissen wollen und beim Kampf um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen keine Hoffnungen in die derzeitige Bundesregierung setzen. Dazu passte die geäußerte Kritik, dass man lieber den eigenen Kolleginnen und Kollegen zuhöre als dem deutschen Bundeskanzler.
Kritisiert wurde auch die „Konzertierte Aktion“, also gemeinsame Absprachen von Regierung, Kapitalverbänden und Gewerkschaften, und die sogenannte „Inflationsausgleichsprämie“, die Bestandteil jüngster Tarifergebnisse ist. Die Haltung des ver.di-Bundesvorstands zu Rüstungsausgaben und Waffenlieferungen an die Ukraine wurde hinterfragt beziehungsweise eine klare Ablehnung eingefordert, zumal die Milliarden, die für Rüstung ausgegeben würden, in der öffentlichen Daseinsvorsorge fehlten. Auch zu den Tarifrunden bei der Post und im öffentlichen Dienst wurde Kritik geäußert, da diese im Ergebnis einen Reallohnverlust für die Beschäftigten bedeuteten. Dabei hätte es durchaus die Bereitschaft gegeben, für mehr zu kämpfen.
In den Ergebnissen der Wahl zum ver.di-Bundesvorstand spiegelte sich dies kaum wider: Mit 92,47 Prozent der abgegebenen Stimmen bestätigten die Delegierten den ver.di-Vorsitzenden Frank Werneke in seinem Amt. Als Stellvertreterinnen wurden Andrea Kocsis (91,3 Prozent) und Christine Behle (93,5) mit großer Mehrheit gewählt – Gegenkandidaten gab es allerdings keine. Neue Vorsitzende des Gewerkschaftsrats ist Lisette Hörig. Im Präsidium des Gewerkschaftsrats werden zudem Carina Dejna, Silke Mayer-Seidler, Constantin Greve und Olaf Harms vertreten sein.
Die einzige Konkurrenzkandidatur um ein Bundesvorstandsmandat gab es zwischen Christoph Meister und Orhan Akman. Meister erhielt 638 Stimmen, Akman 201. Das ist mehr als ein Achtungserfolg für Akman. Denn Meister hatte nicht nur die volle Unterstützung der ver.di-Führung, Akman befindet sich zudem in einem – auch vor dem Arbeitsgericht geführten – Konflikt mit dem Bundesvorstand.
Akman sprach sich in seiner Bewerbungsrede gegen Waffenlieferungen in Konfliktregionen aus. ver.di wolle er vom Kopf auf die Füße stellen, mehr Ressourcen vor Ort investieren und weniger in den „Wasserkopf“ – die Hauptverwaltung in Berlin. Die Möglichkeit, Fragen an die Kandidaten zu stellen, war bis dahin kaum genutzt worden. Bei Akman war dies anders. Doch statt Fragen an ihn zu richten, wurde er von einzelnen Delegierten mit persönlichen Anfeindungen konfrontiert: Er sei nicht kompetent, kenne die Satzung nicht, präsentiere sich „ganz anders als die anderen Kandidaten“ „sehr emotional“ und habe zudem Interna nach außen gegeben. Konkrete Beispiele oder Belege wurden nicht vorgebracht. Auch nach seiner Haltung zu Israel wurde gefragt. Aus den Reihen der Delegierten wurde Protest gegen derartige Anfeindung laut, einigen waren die Angriffe auf Akman sichtlich unangenehm und sie forderten, sachlich und fair zu bleiben.
Am Dienstag wurde der Bundeskongress mit der Antragsberatung fortgesetzt (nach Redaktionsschluss). Angesichts der kritischen Stimmen, die sich bei der Aussprache zum Geschäftsbericht äußerten, und mit Blick auf das Stimmenergebnis für Orhan Akman darf eine lebhafte Debatte erwartet werden.