Beschäftigt man sich mit den politischen Aspekten der bürgerlichen Musikkultur, die gemeinhin als „Klassik“ in Abgrenzung zur Popularmusik bezeichnet wird, so ergeben sich verschiedene Fragestellungen und Probleme: Inwieweit spiegelt sich die politische Haltung des Komponisten in der Musik wider, insbesondere wenn es sich um absolute, also nicht textgebundene Musik handelt? Welche politische Wirkung erzeugt Musik beim Publikum und wie steht diese Wirkung im Verhältnis zur Absicht des Komponisten? In welchem Verhältnis stehen progressive Kompositionstechniken zu einer progressiven gesellschaftlichen Haltung? Wie verhalten sich die angewandten Mittel und die gesellschaftliche Haltung des Komponisten zum künstlerischen Wert einer Komposition?
Solche Fragen können entweder systematisch in einer musikästhetischen Arbeit behandelt werden oder man versucht, ihnen jeweils am einzelnen musikalischen Werk auf die Spur zu kommen. Kai Köhler hat letzteren Weg gewählt, indem er Texte zu einzelnen Komponisten, Werken oder einzelnen musikalischen Einzelereignissen zusammengestellt hat, die zuvor vorwiegend als Essays in der „jungen Welt“ erschienen waren. Als Buch kam diese Textsammlung im Mangroven-Verlag im Juli 2022 unter dem Titel „Klassik in den Kämpfen ihrer Zeit“ heraus. Der schlaglichtartige Charakter wird im Untertitel deutlich, der auf die unterschiedlichen Aspekte hinweist, mit denen sich die Texte beschäftigen: „Personen, Werke, Zusammenhänge, Gebrauchsweisen in der Musik“.
Die einzelnen Essays sind zu sechs verschiedenen Themenkomplexen zusammengefasst: 1. „Aufstieg, Niedergang und Perspektiven bürgerlicher Musik“, 2. „Musik im Weltbürgerkrieg (1914 – 1945)“, 3. „Sozialistische Musik und sozialistische Staatlichkeit“ (dieser Teil nimmt insgesamt den größten Raum ein), 4. „Musik im Westen und nach 1989“. Die letzten beiden sehr kurzen Kapitel sind betitelt mit „Mediale Versetzungen“ sowie „Musiktheater“ und beziehen weitergehende Fragen wie Musik und Film, Regie und am Beispiel einer Peking-Oper auch die außereuropäische Musikkultur mit ein.
Im Unterschied zu gewöhnlichen Werkbesprechungen, wie sie etwa ein Konzertführer liefert, arbeitet Köhler Aspekte heraus, die ein Werk im politischen Sinn als fortschrittlich oder reaktionär klassifizieren. Mit diesem ausdrücklich wertenden Ansatz, auf den er in der Einleitung ausdrücklich hinweist, untersucht Köhler die musikalische Struktur, wobei er von der politischen Haltung eines Komponisten abstrahiert und so zu sehr differenzierten Ergebnissen kommt. So würdigt Köhler etwa das sinfonische Werk von Jean Sibelius, der als Sympathisant der Nazis gilt, in einer sehr genauen und aufschlussreichen Besprechung und verteidigt es gegen den Verriss Adornos, indem er hier eine „ganz eigene Variante dialektischen musikalischen Denkens“ nachweist.
In einem anderen Artikel geht Köhler der Frage nach, ob es faschistische Musik gebe, und stellt darin das Werk von Carl Orff dem von Hans Pfitzner gegenüber – beides Komponisten, die sich den Nazis angedient hatten. Pfitzner traf mit seiner Musik nicht den Geschmack der Nazis. Köhler charakterisiert sie mit den Begriffen „Resignation und Trotz“. Er beschreibt Pfitzners Haltung als eine „konservative Innerlichkeit“. Seine Musik, die sich an deutschen Frühromantikern orientiert und eher spröde als bombastisch wirkt, ließ sich von den Nazis propagandistisch nicht gut verwerten. Auf der anderen Seite steht Carl Orff, dessen Hauptwerk „Carmina Burana“ bis heute fest im Konzertrepertoire verankert ist. In diesem Werk nimmt Köhler eine „mit modernen Mitteln herbeigeschwindelte Archaik“ wahr. Orff vermittele „textlich wie musikalisch das totale Einverständnis und damit die völlige Unterwerfung. Dies ist faschistische Musik.“ Auch wenn man der Analyse Köhlers folgen mag, dass sich diese Musik einfacher Mittel bediene, keine Entwicklung, sondern die Wiederkehr des Gleichen darstelle, wirkt dieses Urteil überzogen und hat auch in der „jungen Welt“ zu kritischen Leserbriefen geführt. Ein in sich so stimmig komponiertes Werk wie die „Carmina Burana“ mit faschistischer Barbarei gleichzusetzen wirkt verharmlosend und unangemessen – es gib sicher andere Beispiele für kulturelle Barbarei.
In mehreren Artikeln beschäftigt sich Köhler mit der Musik Schostakowitschs, der in seinen Sinfonien ausdrücklich Bezug auf politische Ereignisse nimmt, wie zum Beispiel die faschistische Belagerung Leningrads, die Revolution von 1905 und die Oktoberrevolution. Hier geht es ihm unter anderem darum, bürgerlichen Uminterpretationen entgegenzutreten, die Schostakowitsch für ihren Antikommunismus vereinnahmen möchten. Es ist die Gegenstandslosigkeit der Musik selbst, die eine Uminterpretation möglich macht: hören wir in einem Marsch die Stiefel von Faschisten oder die der Roten Armee? Hören wir Polizeiknüppel der zaristischen Polizei oder ist eine heimliche Kritik an Stalins Geheimpolizei gemeint? Worüber wird getrauert – ist es etwa die Verzweiflung über die Verhältnisse unter Stalin? Die vermutlich gefälschten Memoiren Schostakowitschs, die der Emigrant S. Wolkow 1979 veröffentlichte, leisten dabei bis heute unselige Dienste. Die Heuchelei bei der gängigen Uminterpretation Schostakowitschs zum heimlichen Antistalinisten zeigt sich unter anderem darin, dass seine radikaleren Werke, die vor einer Maßregelung in der „Prawda“ entstanden waren, heute nur selten aufgeführt werden, während die späteren, angeblich angepassten Sinfonien häufiger zu hören sind.
Das Buch von Köhler enthält eine Fülle wichtiger Beobachtungen, die für die politische Beurteilung von Musik Kriterien liefern, die sich verallgemeinern lassen und über die es sich zu diskutieren lohnt. Eines dieser Kriterien bezieht sich auf die Frage, ob in einem Werk Entwicklungsprozesse komponiert sind oder durch Verweigerung von Entwicklung die Veränderbarkeit der Welt in der musikalischen Struktur geleugnet wird. Ein Artikel über Richard Strauss, Nietzscheaner und Musikfunktionär in Nazideutschland, ist betitelt mit „Illustration des Augenblicks“. Hinter wirkungsvoll instrumentierten, schönen musikalischen Augenblicken verberge sich eine solche Verweigerung des Fortschritts. Die Frage ist dabei, ob musikalische Entwicklung, die bereits bei Beethoven bis ins Detail auskomponiert worden ist, wirklich als allgemeingültiges Qualitätsmerkmal fortschrittlicher Musik dienen muss. Könnte man nicht auch den Standpunkt vertreten, dass qualitativ hochwertige Musik ihre Zeit in unterschiedlichen Aspekten und mit unterschiedlichen Mitteln adäquat widerspiegeln kann, was zum Beispiel in historischen Phasen, die wenig von fortschrittlicher Entwicklung geprägt sind, auch die Möglichkeit von Stagnation in der musikalischen Struktur mit einschließt?
Neben der Entwicklung einzelner Kriterien für den Fortschritt in der Musik ist es ein Verdienst von Köhlers Buch, den Leser auch mit selten gehörten Werken von politischer Relevanz bekannt zu machen, wie etwa mit in der DDR entstandenen Werken von Günter Kochan und Fritz Geißler, mit einer Neruda-Vertonung des Schweden Allan Petterson sowie mit der Oper „Friedenssaison“ von Gisela Elsner und Christof Herzog, welche sich kritisch mit der Friedensbewegung der 1980er Jahre auseinandersetzt.
Als Grundlage für die weitere Beschäftigung mit kulturellen Fragen aus marxistischer Perspektive ist dieses Buch ein wichtiger Anstoß und wird angesichts der raren linken Literatur zu Fragen der Musikkultur sicher noch lange ein unverzichtbares Werk bleiben.