Tankerkrieg auf der Ostsee“ (ZDF), „Feinde betreiben einen Schattenkrieg der Sabotage in der Ostsee“ (Zeit), „Informationskrieg endlich ernst nehmen“ (Welt), „Wir sind nicht im Krieg, aber es herrscht auch kein Frieden“ (NZZ) – ein kleiner Ausschnitt der Meldungen vom 14. Januar. Während all das über die Ticker lief, saß die Kriegsallianz in Helsinki zusammen, um über die neue Etappe im hybriden Krieg gegen Russland zu beraten. Als Ergebnis des Ostsee-Gipfels der NATO wurde die Mission „Baltic Sentry“ (Schildwache, Wachtposten) ausgerufen, „um die Infrastruktur vor Ort vor möglichen Sabotageakten zu schützen“.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) versprach gutgelaunt inmitten der in Helsinki versammelten NATO- und EU-Kamarilla: „Wir werden uns jetzt praktisch daran machen, die Dinge, die wir hier besprochen haben, umzusetzen.“ Konkret geht es um die Entsendung von Kriegsschiffen, Flugzeugen und Marinedrohnen als „robuste Reaktion der NATO“. Die kriegerischen Handlungen sollen vom neuen NATO-Hauptquartier in Rostock koordiniert werden. Diese erneute militärische Eskalation besiegelt die beim NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens im Juli 2024 vom litauischen Außenminister Gabrielius Landsbergis vorweggenommene Botschaft, die Ostsee sei nun endlich ein „NATO-Meer“ geworden.
Fremdkörper im NATO-Meer
Es bleiben zwei „Fremdkörper“: die beiden russischen Verwaltungsbezirke (Oblaste) Sankt Petersburg am Finnischen Meerbusen im Norden und südlich davon Kaliningrad. In Kaliningrad betrachtet man die Vorgänge mit großer Sorge. Als sich der NATO-Stab in Helsinki gerade zuprostete, schrieb die „gazeta.ru“: „Die NATO-Offensive in der Region Kaliningrad kann den Beginn eines großen europäischen Krieges bedeuten, ausbrechend innerhalb weniger Stunden, der mit dem Einsatz aller Arten von Massenvernichtungswaffen und dem Austausch massiver Atomraketenangriffe auf die ganze Welt übergreift.“ In der russischen Armeezeitung „Roter Stern“ hatte vier Wochen zuvor der Kommandeur der strategischen Raketentruppen, Sergej Karakajew, angekündigt, dass bei der Intensivierung der NATO-Aktivitäten im Ostseeraum Interkontinentalraketen in Alarmbereitschaft versetzt werden.
Unterseekabel und irre Kapitäne
Mit „Baltic Sentry“ erklärt sich die Propaganda der vergangenen Wochen. Zu den Phantasien der Transatlantiker gehört ein ganzes Sammelsurium von „durchtrennten Kabeln, verschobenen Grenzbojen, Desinformationskampagnen, GPS-Störsendern, maroden Öltankern“ (Annalena Baerbock, 10. Januar). Im Fokus der Helsinki-Tagung standen die „mutmaßlich“ von Russland und China ferngesteuerten Frachtschiffhasardeure, die mit schleifenden Ankern den Meeresgrund der Ostsee nach Unterseekabeln durchpflügen. Beweise? Keine. Im Gegenteil: Laut Presseberichten gehen mehrere Geheimdienste davon aus, dass die Schäden nicht durch Sabotage, sondern durch Unfälle verursacht wurden. Es geht nicht um Tatsachen, diese Ebene hat die NATO inklusive ihrer medialen Gefolgschaft schon lange hinter sich gelassen. Das bestätigte einer der wie Pilze aus dem Boden geschossenen „Sicherheitsexperten“, Marineoffizier Moritz Brake („Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies“, CASSIS) am 15. Januar im ZDF: „Es geht eben nicht darum, zu versuchen, etwas zu schützen, was irgendwo immer von unseren Gegnern getroffen werden kann.“ Es geht um die Dominanz der NATO in diesem Teil der Erde. Die NATO-Doktrin hat das erklärte Ziel, dem russischen Schiffsverkehr den „freien Zugang zu den eigenen Stützpunkten und Seeverbindungslinien“ zu entreißen. Wer keine Häfen hat, „kann keine Seemacht sein“.
Der Kampf um die Unterseekabel ist dazu die Ouvertüre. Weltweit sind mehr als 600 solcher Kabel verlegt, etwa 40 davon in der flachen Ostsee (durchschnittliche Tiefe 53 Meter). Wo die Kabel verlaufen, sieht man online en detail auf der „Submarine Cable Map“. Sie liegen nicht etwa auf dem Meeresboden auf, sondern sind mindestens eineinhalb Meter tief im Boden vergraben. Entgegen der NATO-Propaganda, die suggerieren will, die angeblichen Kabelrisse seien außergewöhnlich, zeigen die Recherchen maritimer Versicherungsgesellschaften ein gänzlich anderes Bild. „telegeography.com“ vermerkt 200 Kabel-Schadensfälle weltweit allein im Jahr 2024, zumeist verursacht durch rigide Fangmethoden der Hochseefischerei.
Was könnte Kapitäne von Frachtern und Containerschiffen dazu bemüßigen, vorsätzlich mit schleifenden Ankern über viele Meilen den Meeresboden zu durchpflügen und dabei den Riss der Ankerkette und den Verlust des Ankers zu riskieren? Ohne Anker setzen zu können, dürfen Schiffe in keinem Hafen der Welt festmachen. Welcher Schiffsführer würde das, tausende Seemeilen vom Bestimmungshafen entfernt, ins Kalkül ziehen?
Tatsächlich gibt es das Phänomen des Ankerverlusts. Einer der großen Schiffsversicherer der Welt, die „Britannia Steam Ship Insurance Association“, widmet diesen Schadensfällen eine eigene Dokumentation. Schließlich haben Britannia-Agenten in den letzten Jahren eine rasche Zunahme solcher Vorfälle festgestellt („Dragging Anchor Incidents“), „Vorfälle, die stets Ansprüche von hohem Wert auszulösen“. Ursachen seien Materialermüdung, Defekte der Ankerwinde, korrosionsbedingte Brüche der Ankerkette oder schlecht geschultes Bedienpersonal. Vorsätzlich herbeigeführte Versicherungsfälle tauchen nicht auf. Wer sollte auch dieses Risiko eingehen, das zur Kündigung der Schiffsversicherung, zum Verlust der Kapitänslizenz und dem Rausschmiss aus dem internationalen Schiffsregister führt? Soviel zum Lug und Trug der NATO-Stabsstellen und ihrer medialen Apportierhündchen.
Hybride Kriegsführung
Sinn der ständigen Berieselung mit immer neuen „hybriden Gefahren“ ist die Aufweichung des völkerrechtlich einmal verbindlichen Schemas von „Angriff und Verteidigung“. Aus der Vielzahl der angeblichen Bedrohungen formt sich in den Augen der NATO-Strategen ein „Angriff“, dem unter bewusster Umdeutung (gemeint ist ein faktischer Präventivkrieg) durch die – propagandistisch besser nutzbare – Kategorie der „Verteidigung“ zuvorgekommen werden muss.
Augenfällig wird dies durch den Wechsel der NATO-Strategie: Weg von der Krisenreaktion („Crisis Response“) hin zum Konzept der Vorwärtsverteidigung („Forward Defence“). Die militärische Aktion findet nicht mehr „an der Grenze“, sondern „über die Grenze hinaus“ statt. Hybride Kriegsführung dient der Legitimierung dieser Strategie. Ein Blick in ein Transkript der Bundeswehr vom 4. April 2024: „Das heißt, hybride Kriegsführung wird nicht nur militärisch geführt, sondern auch politisch-diplomatisch, auch als Propagandakrieg, auch als Wirtschaftskrieg, auch als gesellschaftlicher Kulturkampf (…) alles parallel und gleichzeitig.“ Krieg als ein quasi atmosphärisches Phänomen, ein Umstand gibt den nächsten, eine abschüssige Bahn ohne Haltepunkte, auf der die gesamte Gesellschaft in die schließliche blutige „Lösung“ des Konflikts gleitet.
Die Mainstream Medien vermitteln, dass das hybride Vorstadium einer kriegerischen Auseinandersetzung schon längst begonnen hat. Vom bösen und allmächtigen Russen beeinflusste Wahlen in Rumänien, Georgien und kürzlich in Kroatien, geschleifte Kabel, verschmorte DHL-Päckchen, kontaminierte deutsche Trinkwasserreservoirs – den Phantasten in den Militärstäben sind keine Grenzen gesetzt. Wer weiß schon, ob die Russen nicht auch beim Ausbruch der Maul- und Klauenseuche ihre Finger im Spiel hatten?
Einkreisung Russlands
Das Ganze ist weder planlos noch zufällig oder neu. Es gehorcht einer Strategie. Die weltweit auf den Militärakademien gelehrte Grundformel lautet: Strategie (S) ist das Produkt der Faktoren M (militärische Machtmittel), Z (nichtmilitärische Machtmittel), Y (psychologische Komponente) und T (Zeit). Fällt einer der Faktoren auf „Null“, ist die Strategie zunichte. Fehlt zum Beispiel gänzlich die Bereitschaft im jeweiligen Staatsvolk, eine militärische Aktion zu unterstützen (Y = 0) oder ist die zivile Infrastruktur marode und damit für das militärische Ziel untauglich (Z = 0), „lohnt“ sich im militärischen Sinn eine Aktion, zumindest eine solche großen Ausmaßes, nicht. Zweitens gilt für die strategische Ebene das Primat der Politik – über das „Ob“ entscheidet nicht das Militär. Auf dieser Grundlage fällt es nicht schwer, den medialen Output zur Kriegstüchtigkeit „bis 2029“, den „Operationsplan Deutschland“ mit seinen Anforderungen an die Infrastruktur, Bunkerpläne und Zivilschutz, „Anti-Desinformationskampagnen“ oder die Entsendung der „Brigade Litauen“ unter M, Z, Y, oder T einzusortieren.
Seit Gründung der NATO geht es um die Einkreisung der Sowjetunion (später Russlands) auf See und an Land und die Isolation Chinas im pazifischen Raum. Ab Mai 1957 sind für den Druck auf die Sowjetunion (später Russland) Detailpläne zur Zangenbewegung in der Ostflanke der NATO entwickelt worden: Südöstlich die Verfestigung des NATO-Einflusses im Mittelmeer bei gleichzeitiger Ausweitung der Dominanz im Schwarzen Meer und nordöstlich die Umwandlung der Ostsee in ein „NATO-Meer“. Dazu gehört die Elimination der Schiffsverbindungen Russlands so weit wie möglich.
Ideenlieferant dieser „Zangenbewegung“ war der weltkriegserfahrene Fregattenkapitän der Reichsmarine Gerhard Bidlingmaier. Sein Initialaufsatz „Die strategische Bedeutung der Ostsee“ von 1958 findet sich noch heute auf den Seiten der Marineakademie der USA. Basierend auf seinen Erfahrungen im Kampf gegen die Rote Flotte schrieb er: „Uns fallen die weit fortgeschrittenen Flanken im Norden und im Süden in die Augen. Es sind diese Flanken, die von der NATO besonders gestärkt werden müssen. Wie eine große rote Zunge reicht die Zone des sowjetischen Einflusses weit über Berlin hinaus ins Zentrum Europas. Wenn das Maul gierig weiter leckt, werden alle Nationen Westeuropas bedroht sein; denn Deutschland ist der Schlüssel zu Westeuropa für die Russen. Je stärker die Flanken im Norden und im Süden sind und je mehr darauf geachtet wird, dass die Ostsee so schnell wie möglich zum NATO-Gebiet wird, desto sicherer werden alle Demokratien vor der sowjetischen Bedrohung sein.“
Schritt für Schritt in den Krieg
Die Umsetzung der Wegweisung des Fregattenkapitäns lässt sich auf der Homepage der NATO (nato.int) in dem Beitrag „Die militärische Präsenz der NATO im Osten des Bündnisses“ vom 29. November 2024 nachlesen: Seit dem NATO-Gipfel 2016 in Warschau „einigten sich die alliierten Staats- und Regierungschefs darauf, die Vorwärtspräsenz der NATO sowohl im Nordosten als auch im Südosten des Bündnisses aufzubauen“. 2017 folgte die Gründung von vier multinationalen Kampfgruppen in Estland, Lettland, Litauen und Polen. Ab 2022 „verstärkten die Alliierten die bestehenden Kampfgruppen“ und schufen zusätzlich „vier weitere multinationale Kampfgruppen in Bulgarien, Ungarn, Rumänien und der Slowakei“. Im Juli 2024 kam die multinationale NATO-Brigade Lettland dazu. Seit Oktober 2024 „verstärken wir die Aktivitäten der Alliierten im östlichen Teil des Bündnisses. Flugzeuge und Truppen wurden auf NATO-Territorium nach Osteuropa geschickt.“
Geht es nach der NATO, wird sich der nächste Krieg in der Ostsee an der Küste Kaliningrads entzünden. Das russische Verwaltungsgebiet grenzt im Süden an Polen, im Norden und Osten an Litauen. Der Kaliningrader Seehafen ist der einzige russische eisfreie Ostseehafen. Russland hat aktuell etwa 14.000 Soldaten in Kaliningrad stationiert. Ihnen stehen Truppenkontingente der Balten und Polen von 245.000 Soldaten (plus NATO-Einsatzkräfte) gegenüber.
Am 17. Januar kamen die NATO-Kriegsschiffe, die drei Tage zuvor in Helsinki ihren Marschbefehl in Richtung Osten erhielten, vor der Küste Kaliningrads an. Der russischen Nachrichtenplattform „aif“ („Argumente und Fakten“) war dies einen Kommentar wert, in dem von Piraterie und Blockade die Rede ist. Was in Kaliningrad aber wirklich Angst auslöse, sei etwas anderes: „An der Operation sind die gleichen Länder beteiligt, die Leningrad während des Großen Vaterländischen Krieges belagert haben.“ Deutsche Kriegsschiffe auf Feindfahrt vor russischen Hafenstädten.