Dass es der herrschenden Klasse und ihren ausführenden Gehilfen in Politik und Medien Ernst ist mit dem Krieg und dessen Vorbereitung steht außer Frage. Über den konkreten Weg dorthin bestehen Unklarheiten. Was sind die nächsten Schritte der Kriegsertüchtigung, in welche Phasen gliedern sie sich, mit welchen Gesetzen und Verordnungen müssen wir rechnen? Um eine Antwort auf die Fragen zu geben, stehen uns drei Konstanten zur Verfügung: Was im Kriegsfall auf der Ebene der Gesellschaft und der Wirtschaft mit drastischen Folgen für Millionen Menschen geschehen wird, regeln die seit 1968 in der Schublade schlummernden Notstandsgesetze. Wird nach Art. 80a Grundgesetz (GG) der „äußere Notstand“ ausgerufen, setzt das Kriegsrecht ein. Nach den derzeitigen Verlautbarungen der Bundeswehr-Führungsebene ist damit in etwa sechs Jahren zu rechnen. Die zweite Konstante, der „Wettlauf gegen die Zeit“, bemisst sich nach der „Zeit, die die russischen Streitkräfte für ihre Rekonstitution benötigen werden“. So zumindest rechnete es die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) unlängst vor. Die dritte Konstante ist der Status quo, also der aktuelle Stand der Kriegsfähigkeit der Bundeswehr und der NATO-Streitkräfte. Eine Skizze der bereits in vollem Gange befindlichen Militarisierung muss keine Fantasie bemühen – sie orientiert sich an den Fakten, Konzepten und Analysen, die derzeit in den Planungsstäben der Bundesministerien und der angeschlossenen Zivilschutzorganisationen (THW, Feuerwehren) diskutiert und erarbeitet werden beziehungsweise bereits vorliegen.
Notstandsgesetze
„Das Gesetz erscheint den meisten Bürgern dieses Staates als eine Art Verkehrsregelung bei Naturkatastrophen, während es in Wahrheit fast alle Vollmachten für eine fast totale Mobilmachung enthält“, rief der Schriftsteller Heinrich Böll beim Sternmarsch der 60.000 am 11. Mai 1968 in Bonn den Kundgebungsteilnehmern zu. Keine drei Wochen später brachte eine Bundestagsmehrheit den Marschbefehl ins Kriegsrecht unter Dach und Fach. Er gilt bis heute – auf Vorrat zwar, aber in seinem Gehalt so weitreichend, dass im Notstandsfall von den Grundrechten nur eine Karikatur ihrer selbst übrig bleibt. Im Krieg ist bekanntlich alles anders: Das „Grundgesetz ist keine Schönwetterverfassung“, die Notstandsgesetze gleichen einem „Notstromaggregat zur Bewahrung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, erläutert eine Themenseite des Bundestags. Allein 28 Grundgesetzartikel wurden in einem Aufwasch geändert, gestrichen, ergänzt oder neu konzipiert. Betroffen hiervon sind unter anderen die Grundrechte auf Freizügigkeit (Art. 11 Absatz 1 GG) und freie Berufswahl (Art. 12 GG) sowie das Brief-, Post und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG). Einer gerichtlichen Kontrolle des Grundrechtekahlschlags wird durch Art. 19 Abs. 4 GG der Boden entzogen. Die Streitkräfte können gemäß Art. 87a Abs. 4 GG im Inneren eingesetzt werden, Art. 115c GG verleiht dem Bund die alleinige Gesetzgebungskompetenz, ein Mini-Notparlament („Gemeinsamer Ausschuss“) wird installiert, der Bundeskanzler wird militärischer Oberkommandeur.
Vorbereitete Maßnahmen
Das Eigentliche des Kriegsrechts aber, die Dominanz des Militärischen bis in jede Pore gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens hinein, haben die Macher des deutschen Kriegsrechts der Einfachheit halber durch eine Generalermächtigung „outgesourct“. Durch die in Art. 80a Abs. 1 GG implantierte „Entsperrklausel“ kann der Gesetzgeber jederzeit nachjustieren – nach Gusto und Gelegenheit Rechtsnormen für den Notstandsfall auf Vorrat legen, um Vorsorge für „schlechte Zeiten“ zu treffen. Alle Bundesregierungen seit 1968 machten ausgiebig Gebrauch davon. Die genaue Zahl der bis zum „Tag X“ schlummernden Regelungen ist unbekannt, von etwa 20 weiß man inzwischen. In der Fachliteratur gelten sie als effektivstes „Rüstzeug für die Gesamtverteidigung“, sie sorgen für die Koordination von militärischem und zivilem Sektor. Einige Beispiele: die Gesetze zur Arbeitssicherstellung (ASG), zu Zwangsleistungen an den Bund (BL G), zur Sicherstellung des Verkehrs (VerkSiG), das Wirtschaftssicherstellungsgesetz (WiSiG), das Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetz (ZSKG), die Verordnungen zur Sicherung des Straßen-, See- und Luftverkehrs und der Energie- und Wasserversorgung, aber auch das Wehrpflichtgesetz (zuletzt geändert am 20. Dezember 2023). Zentraler Gehalt des ASG ist es, Männer zwischen 18 und 65 in einen Arbeitsdienst bei der Bundeswehr oder „verbündeten Streitkräften“ zu zwingen; Frauen werden in das Sanitäts- und Heilwesen gepresst. Wer sich „weigert, eine ihm aufgetragene und zumutbare Arbeit zu verrichten“, muss mit Freiheitsstrafe rechnen. Das BLG sorgt für die massenhafte Requirierung (Beschlagnahme) ziviler Sachgüter für Militärzwecke – vom privaten Werkzeugkasten über den Familien-Pkw bis zum Wohnraum. Im WiSiG werden die Verteilung und die Rationierung von Lebensmitteln und Gegenständen des täglichen Bedarfs geregelt. Die Verkehrs- und Infrastrukturgesetze erzwingen unter der Prämisse größtmöglicher operativer Beweglichkeit der Truppe das Ruhen des privaten und öffentlichen Verkehrs, damit Deutschland als Militärdrehscheibe der NATO in Richtung Osten reibungslos funktionieren kann. Die unter dem Primat des Militärischen hinzugekommenen Spezifikationen wurden schließlich in den am 10. Januar 1989 erlassenen „Gesamtverteidigungsrichtlinien“ (RRGV) zusammengeführt. Sie regeln das organisatorische Zusammenspiel von militärischem und zivilem Sektor bis in die kleinste Verästelung – sei es beim Bau von Behelfsschutzräumen, beim Umgang mit einem „Massenanfall von Verletzten“ oder bei der Einrichtung von Wehrgerichten für Kriegsgefangene.
Eskalationsverdächtig
Dass das Kriegsrecht erst anlässlich des Ausbruchs von bewaffneten Kampfhandlungen aus der Schublade geholt würde, ist eine Illusion. Die Systematik des verklausuliert abgefassten Art. 80a GG belehrt eines Besseren. Das Grundgesetz kennt verschiedene Arten des Staatsnotstands, der sogenannte „Verteidigungsfall“ (Art. 115a ff. GG) ist nur einer davon. Hinzu treten der Spannungsfall, der Bündnisfall (Art. 5 NATO-Vertrag), der innere Notstand (Art. 91 Abs. 1 GG) sowie Katastrophenfälle (Art. 35 GG). Der kriegsrechtliche Klassiker, der „Verteidigungsfall“, setzt den bewaffneten Angriff einer fremden Macht auf das Bundesgebiet voraus, kann aber schon durch das unmittelbare Bevorstehen eines solchen Angriffs ausgelöst werden. Der Spannungsfall jedoch greift weit früher. Hier genügt eine gesteigerte Gefährdungslage für die Existenz der BRD, gemeint ist damit ein eskalationsverdächtiger außenpolitischer Konflikt. Die Entscheidung hierüber trifft der Bundestag. „Eskalationsverdächtige“ internationale Konfliktsituationen gibt es schon heutzutage genug – die Konturlosigkeit des Begriffs schafft einen beunruhigend weiten Ermessensspielraum für die Regierung.
OPLAN DEU
Der Operationsplan Deutschland (OPLAN DEU) ist das Bindeglied zwischen dem Status quo der Kriegsertüchtigung und der Auslösung des Notstands. Er umfasst mehrere 100 Seiten, ist in den Details geheim und orientiert sich an den bereits erwähnten RRGV. Im März 2023 begann seine Ausarbeitung – federführend ist dabei das neu gebildete Territoriale Führungskommando der Bundeswehr (TerrFüKdoBw) unter Generalleutnant André Bodemann. Grundzüge wurden am 26. Januar 2024 auf einem Symposium in Berlin einem handverlesenen Publikum vorgestellt. Mittlerweile liegen erste Detailpläne auf Basis des OPLAN DEU bei den Teilstreitkräften vor, stets orientiert am Ziel der Einsatzbereitschaft in kürzester Zeit („Kaltstartfähigkeit“). Mit dem am 30. April 2024 verabschiedeten „Osnabrücker Erlass“ wurde der Kurs zur Neustrukturierung der Führungsebenen der Bundeswehr bestimmt und nebenbei noch das neue Kommando „Cyber- und Informationsraum“ ins Leben gerufen. Das Pendant zum TerrFüKdoBw im Zivilbereich ist die Abteilung „Krisenmanagement und Bevölkerungsschutz“ im SPD-geführten Bundesinnenministerium. Hier drückt Ministerialdirigentin Jessica Däbritz mächtig aufs Tempo: „Deutschland muss unverkrampfter etwa über Krieg sprechen.“ Erste Früchte dieser Entwicklung: Im Herbst wird das Ministerium für Klinikpleiten und Pflegenotstand einen Gesetzentwurf vorlegen, der den Ausbau der Bettenkapazitäten „für die Verteilung einer hohen Zahl an Verletzten“ und die Erweiterung der Notfallabteilungen vorsieht. Im Gesundheitsministerium weiß man, was auf die Kliniken zukommt: Im Kriegsfall ist Deutschland „Drehscheibe bei der Versorgung von Verletzten und Verwundeten auch aus anderen Ländern“, so Karl Lauterbach (SPD) am 2. März 2024. Seine Kollegin im Bauministerium, Klara Geywitz (SPD), geht derweil an die Beschleunigung der Bundeswehr-Bauvorhaben. Die Jahrestagung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben beschloss am 25. April 2024 den Vorrang der Bundeswehr im Vergaberecht. Ebenfalls auf dem Tisch liegt das Bunkerprogramm (Kosten: 1 Milliarde Euro) des Städte- und Gemeindebundes. Für brachliegende Brücken und marode Verkehrswege hat die EU-Kommission einen Aktionsplan vorgestellt, der für ihren „militärgerechten Ausbau“ 616 Millionen Euro bereithält. Das Verkehrsministerium wird nachziehen und ein „Infrastrukturverbesserungsgesetz“ ausarbeiten.
Alles für die Front
Der bereits boomenden Rüstungsindustrie stehen weitere Geschenke ins Haus. Geplant sind die „Straffung“ des Beschaffungswesens und die „Entschlackung“ des geplanten Rüstungsexportgesetzes. Wie die „Welt“ vom 12. Mai berichtete, wird aus dem Hause Pistorius bis Anfang Juni ein Entwurf zur Neuordnung der Wehrpflicht erwartet. Der von der Bundeswehr errechnete Bedarf an Menschenmaterial beläuft sich auf jährlich mindestens 30.000 Neuzugänge. Um die „deutliche Skepsis“ in der Bevölkerung gegenüber dem Zwangskriegsdienst zu umgehen, dürfen sich die betroffenen Jahrgänge im Sinne einer „allgemeinen Dienstpflicht“ auch bei THW oder Feuerwehr verpflichten. Im Inneren beruhen die Kriegsvorbereitungen propagandistisch auf zwei Säulen: der Angst und der Formierung der Gesellschaft. Im Mittelpunkt stehen hier – neben dem Ausbau der Geheimdienste – Gesetzentwürfe zur Strafbarkeit der Delegitimierung verbündeter Staaten (Neufassung von Paragraph 130 StGB) und die Verschärfung von Paragraph 109d StGB (Störpropaganda gegen die Bundeswehr).