Doppelmoral der G7-Staaten

Kriegsopfer

Es heißt, dass im Krieg immer die Wahrheit zuerst stirbt. Ein gut gemeinter Satz, der darauf verweisen soll, dass man vor und im Krieg belogen wird. Allerdings ist Wahrheit bestenfalls ein geschichtlicher Prozess, der vom konjunkturellen Blick der Menschen darauf ebenso abhängig ist wie von der Bereitschaft, neue Erkenntnisse zuzulassen – also als Ganzes ein erst durch seine Entwicklung sich vollendendes Wesen, lehrte Hegel.

Real sterben eben nicht Blicke auf Ereignisse, sondern Menschen. Diese Menschen waren in der Antike Soldaten; und im Mittelalter vermehrt Bauern, die zum Kriegsdienst herangezogen wurden. Allmählich wurden dann aber immer mehr Zivilisten getötet. Mit dem Brandschatzen eingenommener Städte stieg die Zahl ziviler Opfer, blieb allerdings immer noch geringer als die Todesraten im Militär. Erst die Mitte des 20. Jahrhunderts brachte eine völlige Umkehrung der Zahlen. Das Verhältnis von getöteten Soldaten und Zivilisten hat nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz beim Ersten Weltkrieg mit seinen Stellungskriegen noch bei 95:5 gelegen; in heutigen Kriegen seien dagegen 90 bis 95 Prozent zivile Opfer zu beklagen.

Die Zahlen des Ukraine-Kriegs zeigen nun wieder ein anderes Bild – gestorben wird vorwiegend auf dem Schlachtfeld. Sieht man von Massakern wie in Butscha ab, deren Urheberschaft immer noch vollkommen ungeklärt ist, so können zurzeit selbst hiesige Medien täglich nicht mehr als zwei Handvoll an den direkten Kampfhandlungen Unbeteiligte beweinen. Das Hohe UN-Menschenrechtskommissariat nennt nach fünfzehn Monaten Eingreifen Russlands in den Krieg etwa 8.800 tote Zivilisten.

Setzt man dem die Zahlen getöteter Soldaten entgegen, die selbst die USA für ihre ukrainischen Verbände bei über hunderttausend sehen (also etwa 250 täglich), so sind wir wieder bei Verhältnissen von vor hundert Jahren. Es klingt zynisch – aber wären da nicht die tödlichen Folgen der ukrainischen Zwangsrekrutierungen, könnte man diese Entwicklung erfreulich nennen. Zahlen toter Soldaten werden jedoch in der Regel nicht genannt. Warum? Würden unsere Medien die riesige Zahl der toten Soldaten den relativ wenigen Zivilopfern entgegenstellen, wäre ihr Bild vom wahllos um sich schießenden russischen Militär nicht haltbar.

Das Wahre ist eben das Ganze.

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"Kriegsopfer", UZ vom 26. Mai 2023



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