Nichts Neues am Tag der Befreiung und am Tag des Sieges

Kriegsgeil und ignorant

Am 4. Mai erklärte US-General Tod Wolters, US-Kommandeur für Europa, zur Eröffnung des gegen Russland gerichteten Großmanövers „Defender Europe 2021“ auf einem Flugplatz in Albanien: „Wir trainieren hier unsere Muskeln und unseren Kopf.“

Was Kopftraining bedeutet, ließ sich in Artikeln der deutschsprachigen Presse zum 8. und 9. Mai nachlesen – soweit der Tag der Befreiung vom Faschismus und der Tag des Sieges dort überhaupt wahrgenommen wurden. Am passendsten titelte Springers „Welt“, die am Samstag auf Seite 2 die Schlagzeile setzte: „Der Westen braucht neue Bündnisse gegen China“. Darunter: „Solange Europa und Amerika so uneinig und schwach bleiben, wird China sein Weltmachtstreben fortsetzen. Die liberalen Demokratien müssen sich endlich wehrhaft zeigen.“ Selbstverständlich erwähnen die Autoren des Artikels, der SPD-Politiker Hans-Peter Bartels, bis 2020 Wehrbeauftragter des Bundestages, und der Außenpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Omid Nouripour, das Manöver „Defender 2021“ nicht. Kern ihres Beitrages: Die NATO reicht nicht mehr gegen die russisch-chinesische „Simulation einer Harmonie“, die „allein auf dem gemeinsamen Antagonismus gegenüber dem Westen beruht“. Sonst wären „auch diese beiden Atommächte Rivalen“.

Bartels setzte sein Drängen auf verstärkte Rüstung am Montag in der „Neuen Zürcher Zeitung“ fort. Begründung: Weder Frankreich noch Großbritannien oder die Bundesrepublik können sich die ganze Bandbreite militärischer Fähigkeiten leisten, die drei „Mittelmächte“ könnten aber „zu gemeinsamer Stärke finden“. Frankreich und Großbritannien ließen sich ihren Atommachtstatus bereits einiges kosten. Die Briten planten „vier neue U-Boot-Plattformen für (US-)Atomraketen und eine Erhöhung der Zahl ihrer Nuklearsprengköpfe von 180 auf 260. Frankreich kalkuliere mit 35 Milliarden Euro für neue U-Boote und Bomber, das Land verfüge zurzeit über 300 Atomsprengköpfe. Für die deutsche „Teilhabe an der nuklearen Abschreckung der NATO“ seien aber „in den kommenden Jahren ebenfalls Milliardeninvestitionen“ erforderlich, „allerdings in einer deutlich bescheideneren Größenordnung“. Die letzte Bemerkung ist wegen ihres Trost­anteils wahrscheinlich das spezifische SPD-Element in dem aufrüstungsgeilen Traktat.

Und der 8. und 9. Mai selbst? In den Samstagausgaben von „Süddeutscher Zeitung“, „Frankfurter Allgemeiner Zeitung“, „taz“ oder „Die Welt“ kam er nicht oder nur in gehässiger Form vor. Die „Frankfurter Rundschau“ ließ dagegen zwei Auschwitz-Überlebende über ihre Befreiung berichten und die „Berliner Zeitung“ widmete sogar ihre gesamte Wochenendausgabe dem Thema „Russen in Berlin“ – viel Lifestyle, aber auch eine Analyse wie diese: „Der Westen hat das Interesse verloren. Europa spielt auf Zeit und verschiebt einen Friedensschluss mit Russland in die entfernte Zukunft. Dabei schulden wir nicht nur den Menschen im Donbass einen Kompromiss mit Moskau.“ Die Gegenposition fand in einem Kontra-Artikel Platz. Aber es findet sich auch ein Artikel von Maritta Tkalec, die schon in der DDR für die Zeitung arbeitete, der so endet: „Und mit Eisler, Becher und Busch dürfen wir schmettern: ‚Dank euch, ihr Sowjetsoldaten!‘ ‚Wer hat vollbracht all die Taten, die uns befreit von der Fron – es waren die Sowjetsoldaten, die Helden der Sowjetunion.‘ Und man merke sich: ‚Es hat auch für dich geblutet, das Herz der Sowjetunion‘.“

Ähnliches wird außer in sozialistischen Zeitungen heute hierzulande nicht gedruckt. In Berlin leben geschätzt 200.000 Russinnen und Russen und wahrscheinlich ähnlich viele aus anderen Sowjetrepubliken. Zehntausende von ihnen kamen am Sonnabend und am Sonntag wieder zu den sowjetischen Ehrenmalen in der Stadt – zusammen mit deutschen Freundinnen und Freunden. Davon haben ein Bartels, Nouripour und alle, die den 8. und 9. Mai ignorieren, keine Ahnung. Man wird sie erinnern müssen.

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"Kriegsgeil und ignorant", UZ vom 14. Mai 2021



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