Zur Aktualität des Komponisten Béla Bartók

Krieg zwischen den Palästen, Friede zwischen den Hütten

Hanns-Werner Heister

Unter den Bauern herrscht Frieden – Gehässigkeit gegen Menschen anderer Rassen wird nur von höheren Kreisen verbreitet.“ So eine zentrale Erkenntnis von Béla Bartók aus seinem Artikel mitten im Zweiten Weltkrieg,

„Volksliedforschung in Osteuropa“ (1943). (Anstelle des früher üblichen unwissenschaftlichen Begriffs „Rasse“ würde er heute „Völker“ oder „Ethnien“ schreiben.) Bartóks Entgegensetzung erinnert an die vielzitierte revolutionäre Parole Georg Büchners und Friedrich Ludwig Weidigs im „Hessischen Landboten“ von 1834, dort ohne das „zwischen“, als immer noch aktueller Aufruf „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“.

Bartók gehört mit Mahler, Debussy, Schönberg, Charles Ives, Anton Webern, Alban Berg, Strawinski, Eisler und Schostakowitsch zu den bedeutendsten Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als einziger hat er bäuerliche Folklore kompositorisch verarbeitet. Mahler verwendete hauptsächlich „Volkslied“ und „Volksmusik“ bis hin zum Marsch, so im Anschluss an ihn auch Alban Berg, Debussy allenfalls Kinderlieder, lieber aber „exotische“, nicht-europäische Musik. Ives bevorzugte städtische Folklore und Populärmusik einschließlich religiöser Musik, ohne Letztere desgleichen Eisler wie auch Schostakowitsch; nur Strawinski verfuhr ähnlich wie Bartók, mit russischer traditioneller Musik, aber nur in einer Phase noch vor dem Ersten Weltkrieg.

„Bauernmusik“ als Material der Musiksprache

Bartóks kompositorische Option ist mit seiner politisch-sozialen Opposition gegen die Herrschenden in Ungarn verknüpft. In einer kurzen nationalromantischen Phase richtete er sich hauptsächlich gegen das „Österreich“ in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Seine symphonische Dichtung „Kossuth“ feiert 1903 den ungarischen 1848er Revolutionär. Während der Proben weigerte sich der Erste Trompeter der Budapester Philharmonie, ein Österreicher, die im Werk parodierte habsburgische Kaiser-Hymne „Gott erhalte“ zu spielen. Das ungarische nationalistische bürgerliche Publikum war von dem Werk angetan, obwohl ihm manches daran musiksprachlich zu kühn war.

In „Kossuth“ verwendete Bartók eben jene „ungarische“ Musik, die er, auch aufgrund von Folkloreforschungen im multinationalen Ungarn, ab 1904 verwarf, da er nun authentische Musik der ländlichen Unterklassen entdeckt hatte. Diese städtische Populärmusik, die „Zigeunermusik“, wie sie vor dem Völkermord der Nazis genannt werden konnte, galt als „magyarisch“, als „ungarisch“ schlechthin, in Operetten wie dem „Zigeunerbaron“ wie schon vorher für Liszt, etwa in seinen „Ungarischen Rhapsodien“, oder Brahms in seinen „Ungarischen Tänzen“. Durchweg wurde wie auch in Verdis „Troubadour“ oder Bizets „Carmen“ die unsichere Lage der meist armen und verfolgten Fahrenden als Freiheit romantisch verklärt.

Bei der Schlüsselstellung der Bauern für seine Musik hallt bei Bartók auch etwas von den Anschauungen der „Narodniki“ nach, der „Volkstümler“ im zaristischen Russland seit der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861. Die Progressiven darunter hofften, ohne den Umweg über den Kapitalismus aus der egalitären und relativ autarken Dorfgemeinschaft als Komponenten der asiatischen Produktionsweise direkt zum Sozialismus übergehen zu können. Marx erwog das 1881 immerhin in einem ausführlichen Antwortbrief an Wera Iwanowna Sassulitsch (1849 – 1919) ausführlich und mit Sympathie.

Bartóks Parteinahme für die bäuerliche Bevölkerung und Musik hat ebenso wie die Reserve gegen die bürgerliche „Zigeuner“-Romantik mit Rassismus, „Klassismus“und Nationalismus nichts zu tun. Im Gegenteil. Sein Forschungsinte-resse wie seine musikalischen Aneignungen wurden bald international, fast schon internationalistisch: „(Ich begann die) Arbeit natürlich mit ungarischer Volksmusik, dehnte sie aber bald auf die benachbarten Gebiete – Slowakei, Ukraine, Rumänien – aus. Gelegentlich machte ich sogar Abstecher in entlegenere Gegenden (Nordafrika, Kleinasien), um einen weiteren Ausblick zu gewinnen.“ (Bartók, „Rassenreinheit in der Musik“, 1942) Einer der Höhepunkte dieser interkulturellen und intersozialen Aneignung ist die „Tanzsuite“ für Orchester. Bartók komponierte sie im Sommer 1923 „als Auftragsarbeit des Budapester Magistrats zum 50. Jahrestag der Vereinigung von Buda und Pest zur neuen Hauptstadt Ungarns. Neben Bartók erhielten auch Zoltán Kodály und Ernö von Dohnányi gleichlautende Aufträge: ‚Pikanterie dieser Geschichte ist‘, schreibt Bartók an seinen Verleger, ‚dass das jetzige ultra-christlich-nazionale Stadt-Magistrat jene 3 ungarischen Komponisten wählte, die während der bolschevistischen Regierung das Musik-Direktorium gebildet haben‘. Während Kodály den ‚Psalmus hungaricus‘ beisteuerte, das grandioseste Chorwerk der ungarischen Musik überhaupt, um die verlogene Moral der neuen Herren mit den eindringlichen Worten des Psalmendichters Sándor Vég aus dem 16. Jahrhundert anzuprangern, begegnete Bartók dem ultrarechten Chauvinismus der neuen politischen Führung mit einer Musik, die vehement die ‚Verbrüderung der Völker‘ – so Bartóks eigene Worte – proklamierte, indem sie die enge Verwandtschaft der südosteuropäischen und vorderasiatischen Volksmusik-Idiome demonstrativ herausstellte. Bartók unternimmt da, in fünf Tänzen und einem Finale, die durch ein mehrfach wiederkehrendes (…) Ritornell zusammengehalten werden, eine musikalische Reise durch die Gegenden seiner Forschungs- und Sammlertätigkeit, ohne auch nur ein einziges originales Volksmusik-Zitat zu verwenden. Zum ‚Charakter‘ der einzelnen Sätze schreibt Bartók im Jahre 1931: ‚No. 1 hat teilweise, No. 4 gänzlich orientalischen Charakter, Ritornell und No. 2 ist ungarischen Charakters, in No. 3 wechseln ungarische, rumänische, sogar arabische Einflüsse; von No. 5 ist das Thema derart primitiv, dass man bloß von einer primitivbäuerlichen Art sprechen kann und auf die Klassifizierung nach Nationalität verzichten muss.‘ Neben diesen dem archaischen Stil der ursprünglichen Bauernmusik nachempfundenen Charakteren taucht im lyrischen Ritornell zum ersten Mal seit langer Zeit eine ‚verbunkos‘-artige Melodie auf, die ihre Quellen eher in der volkstümlichen Kunstmusik hat, die Bartók ja zunächst bekämpfte.“ (Attila Csampai, 2005)

Der „zigeunermusikalische“ „verbunkos“ war ein Werbetanz im Spätabsolutismus des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Anwerbung von Söldnern für das habsburgische Heer. Bartók öffnete also schon früh seine Musiksprache für sehr vielfältige Einflüsse. Das Streben nach Ursprünglichkeit beißt sich, auch wenn sie wie bei Bartók sozial und nicht „ethnisch“ definiert ist, mit der Realität. Alle wollen die älteste, „reinste“ Folklore haben. Aber Mischung, nicht „Reinheit“ist hier eine Grundkomponente, wie genetisch in der Evolution ganz generell. „Das Vergleichen der Volksmusik der einzelnen Völker ließ klar erkennen, dass da ein ständiges Geben und Nehmen von Melodien vor sich ging, ein ständiges Kreuzen und Wiederkreuzen, das seit Jahrhunderten anhält.“ Migration und Assimilation sind auch hier also geradezu lebensnotwendig. „Wenn für die nähere oder fernere Zukunft ein Überleben der Volksmusik erhofft werden darf (…), dann ist offensichtlich die künstliche (…) Trennung eines Volkes vom anderen für die Entwicklung der Volksmusik sehr ungünstig. Eine vollkommene Absperrung gegen fremde Einflüsse bedeutet Niedergang; gut assimilierte fremde Anregungen bieten Bereicherungsmöglichkeiten.“ (1942)

Verbrüderung

Im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg betonte er 1942 das Internationale und verknüpfte die soziale Frage mit der Friedensfrage: „Jetzt, da sich diese Völker auf höheren Befehl gegenseitig morden und die dortige (europäische) Welt so aussieht, als wollten die verschiedenen Nationalitäten einander in einem Löffel Wasser ersäufen (…), ist es vielleicht zeitgemäß, darauf hinzuweisen, dass es bei den Bauern keine Spur von grimmigem Hass gegen andere Völker gibt und nie geben wird. Sie leben friedlich nebeneinander, jeder spricht seine eigene Sprache, hält sich an seine eigenen Gebräuche und findet es ganz natürlich, dass sein anderssprachiger Nachbar das Gleiche tut. Ein schlagender Beweis hierfür ist der Spiegel der Volksseele: die lyrischen Volksliedtexte. In diesen findet sich kaum je eine feindliche Gesinnung gegen fremde Nationalitäten. (1942) Konsequent brachte er schon vor Nazismus und Zweitem Weltkrieg die Aneignung und Verarbeitung regionaler, nationaler und internationaler Folklore auf einen gemeinsamen Nenner: „Meine eigentliche Idee aber (…) ist die Verbrüderung der Völker, eine Verbrüderung trotz allem Krieg und Hader. Dieser Idee versuche ich (…) in meiner Musik zu dienen.“ (Bartók 1931)

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"Krieg zwischen den Palästen, Friede zwischen den Hütten", UZ vom 22. März 2024



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