Vor 80 Jahren, am 22. Juni 1941, überfiel der deutsche Faschismus die Sowjetunion. Es folgte ein beispielloser Raub-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg.
Das Ereignis, dem dieser Artikel gewidmet ist, fand fünf Jahre und acht Tage später statt. Es ist untrennbar mit dem antikommunistischen Vernichtungskrieg verbunden. Vor 75 Jahren, am 30. Juni 1946, stimmte eine Mehrheit der sächsischen Bevölkerung für die entschädigungslose Enteignung der Großgrundbesitzer, Kriegsverbrecher und führenden Faschisten. An diesem Volksentscheid lässt sich zum einen aufzeigen, wie in der Sowjetischen Besatzungszone die Vernichtung der Wurzeln des Faschismus vollzogen wurde, und zum anderen, wie stark die Aufbruchstimmung in der Bevölkerung war. Ein Vergleich mit der Volksabstimmung wenige Monate später in Hessen macht deutlich, wie es um die demokratische Teilhabe des Volkes in den westlichen Besatzungszonen stand.
Zunächst zu besagten Wurzeln: Es steht außer Frage, dass sich tausende Wehrmachts- und vor allem SS-Angehörige in der Sowjetunion schwerster Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben. Doch verantwortlich für diesen Raubkrieg waren nicht die blutjungen Wehrmachtssoldaten, die ideologisch verblendet oder aus scheinbarer Alternativlosigkeit den Krieg im Osten geführt haben – fast vier Millionen fielen für die Interessen des Monopolkapitals an der Ostfront. Verantwortlich und hauptschuldig waren jene, die nie einen Fuß an die Front setzten, sondern in Deutschland die Ernte ihrer Blutsaat einfuhren. Es waren die Besitzer der Kriegsindustrie, zu der in Sachsen die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG), die Anhaltischen Kohlewerke (die zum Flick-Besitz gehörten und schon 1945 in Volkshand wanderten) und die Deutsche Erdöl-AG zählten. Es waren all jene Kapitalisten, die als aktive Faschisten tätig und in Kriegsverbrechen verstrickt waren. Erst der Entzug ihrer Machtmittel, des Besitzes an Großgrundbesitz und Fabriken, konnte die Basis für ein antifaschistisches und friedliches Land bilden.
An der Initiierung des Volksentscheids waren maßgeblich die sächsische KPD und SPD, später vereinigt in der SED, beteiligt. Aber nicht nur sie: Auch die sächsische CDU und die Liberal-Demokratische Partei unterstützten das Gesetz über die Übergabe von Betrieben von Kriegs- und Naziverbrechern in das Eigentum des Volkes, über das im Volksentscheid entschieden wurde. Die Sowjetische Militäradministration förderte das Vorhaben. Trotz des fünf Jahre zuvor begonnenen Vernichtungskriegs übertrug die Sowjetunion die Entscheidung über das Eigentum an diesen nicht unerheblichen Produktionsmitteln dem deutschen Volk – jenem Volk, das in Teilen aktiv, in Teilen passiv den Krieg mitgetragen hatte. Sicher, die von der Sowjetunion beanspruchten Reparationen waren hoch, gleichwohl angesichts der enormen Kriegsschäden nachvollziehbar. Trotzdem war der Sowjetunion bewusst, dass Fabriken und Felder jenen zustanden, die in und auf ihnen arbeiteten. Unmittelbar nach dem Krieg wurden zahlreiche Vermögen, auch Fabriken, unter die Verwaltung der Sowjetischen Militäradministration gestellt. Die Entscheidung über den Umgang mit diesen Vermögen oblag in Sachsen dann aber im Juni 1946 dem Volk selbst.
Die Qualität dieses demokratischen Prozesses wurde daran deutlich, dass es nicht schlichtweg um das Ankreuzen eines Kästchens auf einem Stimmzettel ging. Bereits in der Vorbereitung der Volksabstimmung wurden breite Teile der Bevölkerung eingebunden: Die antifaschistischen Parteien und der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund berieten in Ausschüssen, welche Unternehmen unter das Gesetz fallen sollten. In nur etwa zehn Tagen kam es zu 5.000 Versammlungen, 500 davon in den Industriebetrieben selbst. Auch in den Dörfern gab es Diskussionen über die Enteignung der Großgrundbesitzer; ein großer Teil der Bauern unterstützte die Forderung trotz reaktionärer Gegenpropaganda. Intellektuelle wie Joseph Keilberth und Paul Wegener setzten sich für den Volksentscheid ein, ebenso wie die Katholische und Evangelische Kirche in Sachsen.
Am 25. Mai 1946 wurde der Entwurf des Gesetzes veröffentlicht. Im Artikel 1 hieß es: „Das ganze Vermögen der Nazipartei und ihrer Gliederungen und die Betriebe und Unternehmen der Kriegsverbrecher, Führer und aktiven Verfechter der Nazipartei und des Nazistaates, wie auch die Betriebe und Unternehmen, die aktiv den Kriegsverbrechen gedient haben (…), werden als enteignet erklärt und in das Eigentum des Volkes überführt.“
Am 30. Juni 1946 kam es zur Volksabstimmung: Es beteiligten sich 93,7 Prozent der Wahlberechtigten. 77,6 Prozent sprachen sich für das Gesetz zur Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher aus. Nur 16,6 Prozent stimmten gegen das Gesetz; knapp sechs Prozent gaben ungültige Stimmzettel ab. Von den 4.761 zwangsverwalteten Unternehmen wurden in der Folge 1.861 enteignet. Damit war ein großer Schritt in Richtung der vollständigen Enteignung aller Monopole in der Sowjetischen Besatzungszone getan. Der Volksentscheid 1946 war ein Zeichen für eine fortschrittliche Aufbruchstimmung in breiten Teilen der Bevölkerung, die weit über die Arbeiterklasse hinausging, und hatte Ausstrahlungskraft über Sachsen hinaus.
Wie solche Prozesse im Westen verliefen, zeigt ein Blick nach Hessen. Dort gab es in der Bevölkerung – von der Arbeiterklasse bis hinein ins Bürgertum – eine breite antifaschistische und antimonopolistische Grundstimmung. Im Dezember des Jahres 1946 wurde der hessischen Bevölkerung eine Landesverfassung zur Abstimmung vorgelegt. Vor allem auf Initiative der KPD und großer Teile der SPD hatte sie einen klar antifaschistischen und antimonopolistischen Charakter: Die betriebliche Mitbestimmung war in ihr ebenso verankert wie das Verbot der Aussperrung. Artikel 41 ging noch weiter: Er hielt fest, dass „in Gemeineigentum überführt (werden sollen – M. H.): der Bergbau (Kohlen, Kali, Erze), die Betriebe der Eisen- und Stahlerzeugung, die Betriebe der Energiewirtschaft und das an Schienen oder Oberleitungen gebundene Verkehrswesen“. Die Brisanz dieses Artikels führte zu seiner getrennten Abstimmung auf Druck der amerikanischen Militäradministration. Am 1. Dezember 1946 stimmten die Wähler mit 76,4 Prozent für die Gesamtverfassung und mit 72 Prozent für den Artikel 41. Das verdeutlicht die Grundstimmung von drei Vierteln der Bevölkerung in Sachsen wie in Hessen: Die große Mehrheit wollte die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher.
Zur tatsächlichen Enteignung kam es, anders als im Osten, in Hessen allerdings nie: Die amerikanischen Besatzungsbehörden verhinderten die Anwendung des Artikel 41 auf den Bergbau und die Eisen- und Stahlindustrie; den Rest übernahm mittels Verschleppung und Versandung die CDU. Ausnahme blieb einzig und allein das Eisenverarbeitungsunternehmen Buderus:
Dessen Hüttenwerke wurden zunächst verstaatlicht,dann in eine AG überführt und schließlich in den Sechzigerjahren privatisiert. Grundlegende Veränderungen in den Besitzverhältnissen unter der demokratischen Teilhabe des Volkes aber unterblieben im Westen Deutschlands.