Dreihunderttausend Demonstranten in Tel Aviv und Jerusalem haben am Sonntag einen umgehenden Deal mit der Hamas verlangt, um die noch lebenden Geiseln freizubekommen. Oppositionspolitiker riefen zu Protesten auf, der Dachverband der Gewerkschaften Histadrut rief für Montag zu einem Generalstreik auf, den Finanzminister Bezalel Smotrich vom Gericht verbieten ließ – politische Streiks sind nicht gestattet. Der Druck auf die israelische Regierung, zu einem Abkommen mit der Hamas zu kommen, steigt trotz des um 14:30 Uhr eingestellten Streiks.
„Wir müssen wählen, ob wir unsere Truppen dauerhaft im Philadelphia-Korridor in Gaza stationieren wollen oder ob wir die Geiseln zurückhaben wollen. Beides zusammen können wir nicht haben.“ Als Verteidigungsminister Joaw Galant diese Alternative auf einer Sitzung des israelischen Sicherheitskabinetts wenige Tage vor Demonstration und Streik vorgestellt hatte, eskalierte laut Medienberichten der Streit mit Benjamin Netanjahu. Große Teile der Geheimdienste und des Militärs teilen Galants Ansicht – doch im Kabinett ist er isoliert. Netanjahu und sieben weitere Minister stimmten für den Philadelphia-Korridor. Die einzige Gegenstimme kam von Galant.
Während der Verteidigungsminister für eine Verhandlungslösung in Gaza eintritt, fordert Außenminister Israel Katz die „vorübergehende“ Vertreibung von Palästinensern auf der Westbank.
„Es ist ein Krieg in jeder Hinsicht“, mit diesen Worten beschreibt er die Situation auf der Westbank. In den Kämpfen um Dschenin, Nablus, Tulkarem und Tubas und den anderen Orten auf der Westbank hat die israelische Armee seit Oktober letzten Jahres nahezu 700 Palästinenser getötet. Mit dem größten israelischen Militäreinsatz seit Jahrzehnten, der letzte Woche im Norden der Westbank begann, steigt diese Zahl sprunghaft an.
Die israelische Armee kämpft gegen eine neue Generation von Palästinensern, die sich von der Autonomiebehörde nicht mehr kontrollieren lassen. Hubschrauber, Drohnen, gepanzerte Fahrzeuge und Hunderte Soldaten überfielen Städte im Norden der Westbank. Wohngebiete wurden blockiert, Stromversorgung zerstört und in Dschenin wurde der Zugang zu einem Krankenhaus gesperrt, Häuser und Straßen werden von Bulldozern zerstört.
Für die israelische Regierung heißt der Norden der Westbank „Samaria“ und gilt damit in Regierungsäußerungen überwiegend als „israelisches Kernland“. Nach internationalem Recht dagegen ist dieses Gebiet – wie der Rest der Westbank – illegal von Israel besetzt.
Katz will die Westbank zu einem zweiten Gaza machen. „Wir müssen mit der Terrordrohung auf der Westbank genauso umgehen wie mit der Terror-Infrastruktur in Gaza.“ Wie in Gaza sollen die Palästinenser von Ort zu Ort vertrieben werden.
Die Forderung nach einer „vorübergehenden“ Vertreibung der Palästinenser geht selbst dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell zu weit. Diese „Evakuierungen“ würden die Situation weiter destabilisieren. Borrell verlangte gar Sanktionen gegen die Minister Itamar Ben Gvir und Smotrich wegen ihrer Hassreden. Vor allem die Vertreter Deutschlands und Italiens wandten sich gegen Borrells Forderung.
Für Katz und die israelische Regierung ist die völkerrechtswidrige Besatzung und die Politik der Apartheid belanglos. Ihr Zauberwort heißt „Iran“. Mit dem Krieg auf der Westbank solle eine angebliche „islamisch-iranische Terrorinfrastruktur“ zerstört werden. Iran wolle eine weitere Front gegen Israel aufbauen, Jordanien solle destabilisiert werden.
Der jordanische Außenminister Ayman Safadi dagegen fordert ein Ende der israelischen Angriffe. Die Region und ihre Sicherheit dürfe nicht zur Geisel der radikalisierten israelischen Regierung werden.