Am 20. Oktober dieses Jahres leisteten sich die Bürgerschaft in Stralsund und die Stadtverordnetenversammlung in Königs Wusterhausen etwas Unerhörtes: eine abweichende Haltung zur deutschen Kriegspolitik. Nun leben wir bekanntermaßen in einem Land, in dem es vollkommen unbedenklich ist, sich eine eigene Meinung zu bilden. Nur mit dem Äußern sollte man ein bisschen vorsichtig sein. Zumindest dann, wenn man nicht öffentlich verächtlich gemacht oder juristisch belangt werden möchte.
Beide Kommunen hatten beschlossen, sich für eine diplomatische Lösung im Ukraine-Krieg einzusetzen. Die entsprechenden Beschlüsse wurden von breiten Mehrheiten getragen. In Stralsund stimmten sogar die örtlichen Vertreter der drei Ampelparteien für den Vorschlag, das Rathaus für „sofortige Friedensgespräche“ zur Verfügung zu stellen. Der Vorstoß wurde mit der Sorge vor einer weiteren Eskalation des Krieges hin zu einer „nuklearen Katastrophe“ begründet. Der Antragstext wähnte sich in der Tradition des „Stralsunder Friedens“ von 1370. Ähnliche Töne schlug der offene Brief an, den die Stadtverordnetenversammlung in Königs Wusterhausen verabschiedete: Durch den Wirtschaftskrieg würden enorme soziale und ökonomische Schäden verursacht, „ohne dass damit den Menschen in der Ukraine geholfen ist“. Der Krieg dürfe nicht verlängert werden, die Waffen müssten schweigen, lautete die Schlussfolgerung der Stadtverordneten. An der Heimatfront war das Entsetzen groß. Sofort bemühte man sich, die politische Diskussion durch eine juristische Frage zu ersetzen: Dürfen die das überhaupt?
Das Verabschieden von Resolutionen ist in der Kommunalpolitik keineswegs unüblich. Zuletzt machten vergleichbare Beschlüsse Schlagzeilen, als sich hunderte Städte und Gemeinden gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA aussprachen. Damals versuchte die Bundesregierung, den Kommunen einen Maulkorb zu verpassen. Gemeinderäte hätten keine „Kompetenz zur Befassung mit allgemeinpolitischen Angelegenheiten“, ließ man den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages mitteilen. Diese Rechtsauffassung wurde von zahlreichen Gegengutachten kritisiert. Mehrere Bundesländer machten deutlich, dass die Abkommen kommunale Auswirkungen hätten und daher ein örtlicher Bezug gegeben sei.
Nichts dergleichen war zu vernehmen, als Stralsund und Königs Wusterhausen nach ihren Appellen mit Hetzkampagnen überzogen wurden und ins Visier der Kommunalaufsicht gerieten. Dass ein drohender Atomkrieg einen „örtlichen Bezug“ hätte, lässt sich nur schwer bestreiten. Dennoch bezeichnete das Innenministerium in Mecklenburg-Vorpommern den Stralsunder Beschluss in der vergangenen Woche als rechtswidrig. Die Entscheidung, das eigene Rathaus für Friedensverhandlungen anzubieten, habe den „Charakter einer allgemeinpolitischen Erklärung“, erläuterte das Ministerium auf Anfrage der „Deutschen Presse-Agentur“ (dpa).
Dürfen sich kommunale Institutionen also grundsätzlich nicht zur Außenpolitik äußern? Ende Oktober wurde der Münsteraner Oberbürgermeister Markus Lewe (CDU) in den „Westfälischen Nachrichten“ zitiert: „Wir müssen uns vor Augen führen: Wir sind gerade im Krieg.“ Münster sei ein guter Ort für „Friedensgespräche“, wobei er auf den „Westfälischen Frieden“ von 1648 verwies. Obacht! Ein Einschreiten der Kommunalaufsicht wäre nach den Erkenntnissen aus Stralsund wohl kaum zu vermeiden gewesen. Doch glücklicherweise bezog sich Lewe nur auf das G7-Außenministertreffen, das kurz darauf in Münster stattfand. Niemand nahm Anstoß daran, dass der Bürgermeister das Rathaus in diesem Zusammenhang für „Friedensformate, diplomatische Gespräche und Zusammenkünfte“ anbot. Merke: Vom Frieden darf auch kommunal gesprochen werden. Aber nur, wenn Russland nicht eingeladen ist.