Mit 5.000 getöteten Soldaten am Tag rechnet die NATO bei einem möglichen Krieg an der Ostflanke. Deshalb braucht Deutschland ein „Massen-Heer“, fordert Patrick Sensburg, Präsident des deutschen Reservistenverbandes. „Ich hätte als Soldat in der aktiven Truppe ein schlechtes Gefühl, wenn keine Reservisten in der Nähe wären“, so Sensburg gegenüber dem Nachrichtenmagazin „t-online“. „Denn wenn ich von 5.000 Toten ausgehe und danach rückt niemand mehr nach, kann ich ausrechnen, wie lange es dauert, bis die Front einbricht.“
Süß und ehrenvoll ist’s, für das Vaterland zu sterben – aber nur, wenn jemand nach mir kommt. Um die 5.000er-Lücke zu stopfen, fordert der Verbandschef 350.000 aktive Soldaten und wenigstens eine Million Reservisten. Vorbei die Zeiten, in denen die Bundeswehr über die ausschließliche Anwerbung von Spezialisten für komplexe Spezialoperationen fabulierte. Die Stunde des klassischen Kanonenfutters rückt näher. Ihre Vorboten: Wehrpflicht und massive Rekrutierungsversuche, besonders an Schulen.
Wie so etwas abläuft, konnten vor kurzem die Schülerinnen und Schüler der 12. Klasse am Gymnasium Wernigerode (Sachsen-Anhalt) erleben. Ausgerechnet in der Mottowoche, die dem Beginn der Abschlussprüfungen vorhergeht, sollte der Abiturjahrgang in der Aula zusammenkommen, um dem verpflichtenden Vortrag eines Bundeswehroffiziers zuzuhören. „Kurz vor den Prüfungen haben wir kaum Zeit zum Lernen oder für die Erholung“, erzählt eine Schülerin gegenüber UZ. „Da ist jede Stunde kostbar. Durch die Bundeswehr haben wir Unterricht verpasst, den wir am nächsten Tag nachholen mussten.“
Unterstützung erhofften sich einige Schülerinnen und Schüler von der SDAJ Harz. „Wir haben erfahren, dass an der Schule Unmut herrscht, der sich nicht richtig entladen kann“, sagt Martin* von der SDAJ. Um ein Zeichen gegen die Militarisierung zu setzen, griff die organisierte Arbeiterjugend zur Straßenkreide. Am Morgen vor der Werbeveranstaltung grüßten Sprüche wie „100 Milliarden für die Bildung“, „Bundeswehr raus aus der Schule!“ und „Eure Kriege – ohne uns“ – aufgemalt auf dem öffentlichen Gehweg vor der Schule und auf dem Boden eines öffentlichen Parkplatzes. „Wir haben das Schulgelände nicht betreten“, so Martin, der darauf hinweist, dass der nächste Regen die Kreide weggespült hätte. Ein paar Flyer, angebracht mit einfachem, rückstandslos zu entfernendem Klebeband, lieferten die notwendigen Hintergrundinformationen. „Wir wollten der Bundeswehr zeigen, dass sie an der Schule nicht willkommen ist. Und wir wollten Diskussionen anstoßen: Ist es sinnvoll, einen Arbeitgeber an die Schule zu holen, der dafür wirbt, dass man tötet und sich töten lässt?“
Diese Frage wird derzeit in hunderten Schulen im gesamten Bundesgebiet aufgeworfen. Immer wieder protestieren Schülerinnen und Schüler gegen Auftritte der Bundeswehr, bei denen auch kinderrechtswidrig um minderjährige Rekruten geworben wird. Oft werden dabei die im sogenannten Beutelsbacher Konsens ausgehandelten Leitlinien der politischen Bildung verletzt. Etwa wenn Werbeoffiziere ihre Vorträge halten, ohne dass jemand dazugebeten wird, der den darin unterbreiteten Versprechungen und Ansichten qualifiziert widerspricht. So war es auch in Wernigerode, wie eine Schülerin berichtet.
„Die Aula war voll besetzt und der Vortrag verlief so, wie man es sich vorstellt.“ Es ging um „Staatsbürger in Uniform“ und „Wir dienen Deutschland“. Videos zeigten Kampfjets im Einsatz und Soldaten im Laufschritt, „sehr, sehr bunt – wie in einem Actionfilm“. Der Offizier habe die Vorteile eines Studiums oder einer Ausbildung bei der Bundeswehr hervorgehoben. „Und dann wurde es seltsam“, so die Schülerin. „Er hat uns erzählt, dass er sich für Kinder mit Behinderung einsetzt. Das ist ja cool, aber es hat gar nicht gepasst. Er zeigt uns Videos von abgeworfenen Bomben und erzählt uns dann, wie toll er doch ist, weil er sich um Kinder mit Behinderung kümmert. Ziemlich krass!“
So ging es offenkundig mehreren Schülerinnen und Schülern im Publikum. Als der Offizier am Ende seines Vortrages fragte, wer sich denn ein Studium oder eine Ausbildung bei der Bundeswehr vorstellen könne, ging laut Schülerberichten eine einzelne Hand nach oben. „Wir wurden eine Weile mit Kriegspropaganda bespielt und konnten dann nach Hause gehen. Gebracht hat das niemandem etwas“, so das Urteil.
Damit hätte diese Geschichte enden können. Wäre da nicht die Schule, die den antimilitaristischen Protest in Form von Kreidemalereien nicht auf sich sitzen lassen wollte. Noch bevor der Jugendoffizier die Schriftzüge zu Gesicht bekommen konnte, so heißt es in einem offenen Brief der SDAJ Harz, seien die Schülerinnen und Schüler der zwölften Klassen erpresst worden, „die öffentlichen Flächen von der Kreide zu säubern, unter Androhung, dass die Mottowoche abgesagt werde. Obwohl niemandem eine (Mit-)Schuld nachgewiesen werden konnte, wurde allen eine Kollektivstrafe verhängt.“
Den genaueren Ablauf schilderte eine Zwölftklässlerin gegenüber UZ so: „Eine Schülerin aus unserem Jahrgang wurde in das Büro einer Lehrerin mit leitender Funktion gerufen. Anschließend machte die Nachricht die Runde, dass der letzte Schultag abgesagt würde, wenn das nicht gereinigt wird.“ Was genau die Lehrerin im Zwiegespräch gesagt hatte, war nicht mehr nachzuvollziehen. Doch die Einschüchterung wirkte: der Jahrgang rückte aus und säuberte den öffentlichen Straßenraum außerhalb des Schulgeländes von den antimilitaristischen Schriftzügen. „Selbst Leute, die nicht unbedingt für die Bundeswehr sind oder sich sogar gegen die Bundeswehr stellen würden, mussten schrubben.“
Warum sich der Jahrgang diese Behandlung gefallen ließ, erklärt sich die Schülerin so: „Vor einigen Jahren wurden die verschiedenen Gymnasien in Wernigerode zusammengelegt. Es gab sehr, sehr große Proteste aus der Schülerschaft. Wir haben protestiert, weil es sich dabei um ein Symptom für Unterfinanzierung der Schulen handelt. Und weil die Zusammenlegung schlimme Folgen hatte: Die Schulwege wurden länger, es gab keine Wahlmöglichkeiten mehr, plötzlich musste zwischen verschiedenen Schulgebäuden gependelt werden. Unser Protest wurde einfach ignoriert. Ich glaube, das war eine der ersten Erfahrungen, die viele meiner Mitschüler mit Protesten gegen Autorität und für ihre eigenen Interessen gemacht haben.“ Also Resignation? Sie überlegt. „Ich denke, das ist möglich. Ja. Und es hat mit Sicherheit dazu geführt, dass sich weniger Schüler getraut haben, etwas zu sagen.“
Die Reinigungsaktion spaltete die Schülerschaft. Doch die Frustration entlud sich zunächst nicht gegen die Schulleitung, sondern gegen die Urheber der Kreidemalereien, die nun entfernt werden mussten. „Wir waren erst mal sehr schockiert über die Situation und darüber, dass die Schule so etwas macht mit ihren Schülern“, sagt Martin. „Wir entschieden uns, einen Offenen Brief zu verfassen an die Schulleitung, an die Elternvertretungen und an die Schüler des Gymnasiums Wernigerode, um das Narrativ nicht zu 100 Prozent in der Hand der Schulleitung zu lassen.“ In dem Offenen Brief entschuldigten sie sich bei den Schülerinnen und Schülern: „Uns kam nicht in den Sinn, dass ihr unter einer so willkürlich handelnden Schulleitung leiden müsst. (…) Der Protest war und ist legitim, vor allem wenn die Bundeswehr Minderjährige rekrutieren will!“
Unterdessen ging die Suche nach möglichen Mitverantwortlichen in der Schülerschaft weiter. „Mir wurde erzählt, dass eine Lehrerin geschaut hat, wer dem Instagram-Account der SDAJ Harz folgt“, sagt eine Schülerin. Doch es blieb nicht bei Gerüchten. Der Schulleiter des Gymnasiums reagierte mit einer E-Mail an die SDAJ Harz, die der UZ-Redaktion vorliegt, auf den Offenen Brief, und wünschte sich „einen direkten Kontakt zu Schülern (…), die diesen Brief unterstützen. Leider sind mir diese nicht namentlich bekannt, Ihnen aber wahrscheinlich schon. An dieser Stelle benötige ich also bitte Ihre Unterstützung.“ Allerdings, so versichert er, gehe es ihm nicht darum, „Personen ausfindig zu machen, die dafür verantwortlich sind. Die Gehweg-Aktion ist für mich mit der Entfernung der Kreidebeschriftungen abgehakt.“ Er schließt mit „der Bitte, dass Sie mir in der (ggf. vertraulichen) Kontaktherstellung zu Schülern der Schule behilflich sind“.
Gerne hätten wir von der Schulleitung erfahren, wie sie zu den Vorwürfen steht. Eine Presseanfrage nach den pädagogischen Hintergründen der Kreide-Entfernungsaktion jenseits des Schulgeländes, der Zulässigkeit von antimilitaristischem Protest, der Einhaltung des Beutelsbacher Konsenses und nach den demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Schule wurde nicht beantwortet. Erst nach Verstreichen der Frist und einem kurzen Hinweis auf das Landespressegesetz Sachsen-Anhalt reagierte das Sekretariat und erklärte, dass die gesamte Schulleitung in den Osterferien und daher nicht zu erreichen sei. Die Frage nach einer Vertretungsregelung lief ins Leere.
„Als wir unseren Offenen Brief vor der Schule verteilt haben, kam der stellvertretende Schulleiter zu uns und sagte, dass wir uns ‚leider‘ auf rechtlich sicherem Rahmen befänden. Er forderte uns dann trotzdem auf zu gehen. Ich glaube, hinter der völlig überzogenen Reaktion steckt ein falsches und ungesundes Verständnis von Autorität“, resümiert Martin. War die Spaltung der Schülerschaft das Ziel der Aktion? „Ich weiß nicht, wie sehr die Lehrkräfte tatsächlich darüber nachgedacht haben, was das für Konsequenzen haben wird“, sagt eine Schülerin. „Ich kann es mir kaum vorstellen, weil spätestens dann hätten sie ja merken sollen, dass rechtswidrig ist, was sie da tun, und dass man nicht die Schülerschaft dazu bringen kann, den Gehweg zu schrubben – unter normalen Umständen.“
*Namen von der Redaktion geändert