Noch vor Kurzem lobten die Spitzen der Großen Koalition sich selbst und den Zustand des von ihnen regierten Landes überschwänglich: Die Wirtschaft sei am Brummen, die Arbeitslosigkeit niedrig wie jahrzehntelang nicht, Steuertöpfe und Sozialkassen seien gefüllt und all das ohne Neuschulden. „Noch nie ging es uns so gut wie heute“, prahlten sie. Das war eine Beschönigung, die über die prekäre Lage eines Großteils der hiesigen Lohnabhängigen hinwegsah und sich über das Elend ausschwieg, das Berlins Austeritätsdiktate in Südeuropa hinterlassen haben.
Nach dem Brexit-Votum und der Trump-Wahl räumte die smarte Kriegsministerin Ursula von der Leyen in einer Talkshow ein, dass „die Globalisierung“ nicht nur Gewinner kenne. Es gebe „Globalisierungsverlierer“, die für die „einfachen Lösungen“ der „Populisten von rechts und links“ anfällig seien. Die „Lösungen“ der Herrschenden sind nicht „einfach“, sondern „komplex“, aber trotzdem ziemlich durchsichtig. Sie preisen mit schöner Regelmäßigkeit die Agenda 2010, die neoliberale Deregulierung, die Privatisierung, die Prekarisierung als „Reformen“, die „Deutschland“ stark gemacht hätten. In der Realität haben kapitalistische Ausbeutung und neoliberale Umverteilung von unten nach oben die Reichen reicher und die Armen zahlreicher gemacht. Die untere Mittelschicht fühlt sich vom Abstieg bedroht.
Doch nun kommt Martin Schulz und will die „Vergessenen und Zurückgelassenen“ zum Thema machen. Es sind viele. Schulz benennt einige im Interview mit Anne Will: der Busfahrer, die Krankenpflegerin, der Bäcker, der Feuerwehrmann, die Verkäuferin, der Polizist, der Altenpfleger, jene, die als Familien keine bezahlbare Wohnung finden, Frauen, die abends auf der Straße Angst haben, Eltern, die sich über marode Schulgebäude ärgern, Landbewohner, für die ein Arzt zu weit weg ist, Anwohner ohne Bushaltestelle, Ehepaare, die beide arbeiten müssen, die gesamte „hart arbeitende Mitte“, alle, die Angst vor Altersarmut haben. Ihnen sagt Schulz: Da will einer Kanzler werden, der unsere Sorgen kennt, benennt und mit ins Kanzleramt nimmt.
Die Agenda 2010, die den deutschen Großkonzernen von einer Exportweltmeisterschaft zur nächsten verhalf, brachte einen Großteil ehemaliger SPD-Anhänger in eine prekäre Lebenslage. Der Vertrauensbruch kostete die SPD die Hälfte ihrer Wähler. Schulz will sie von den Nichtwählern und den anderen Parteien zurückholen. Heute seien bei Wahlen viele Überraschungen möglich. Schulz spekuliert auf das, was die belgische Politologin Chantal Mouffe eine „populistische Situation“ nennt. Er entlehnt vom linken Labour-Führer Jeremy Corbyn den Wahlspruch: „Kein Mensch darf zurückgelassen werden!“ Doch Corbyn kämpft seit Jahrzehnten gegen NATO-Kriege und Sozialabbau, stützt sich auf eine Basisbewegung, wird von den Blairisten, dem neoliberalen Flügel von Labour, wütend bekämpft. Schulz dagegen folgt der Linie des Schröder/Blair-Papiers, hat sich nie von der Agenda 2010 abgesetzt.
Als hoher EU-Funktionär war Schulz mitverantwortlich für die Austeritätsdiktate gegen Südeuropa, die das Volk, Lohnabhängige, Rentner, Bauern und Kleingewerbetreibende zwingen, für die Rettung der Großbanken zu zahlen. Er verteidigt das Euro-System, welches die Spaltung Europas immer tiefer macht. Nach Brexit und Trump-Wahl sind die Absatzmärkte für die deutschen Exportüberschüsse weniger offen. Die auseinanderdriftende EU soll durch Militarisierung und Russophobie zusammengehalten werden. Poroschenko darf in der Ukraine wieder zündeln. Die Kriegsgefahr wächst. Bei all dem wird Schulz weiter mitmachen.
In der Anne-Will-Show bat er eine Essener Verkäuferin und einstige SPD-Wählerin: „Schau mir in die Augen und gib mir den Vertrauensvorschuss.“ Doch wer bekommt schon Kredit auf schöne Augen? Schulz! So suggerieren es die ersten Umfrageergebnisse.