Zur Propaganda des deutschen Imperialismus im Ersten Weltkrieg

„Kosakische Bestialitäten“

Benjamin Gnaser

Der Weltkrieg, der vor 110 Jahren begann und den wir heute den Ersten nennen, setzte neue Maßstäbe – nicht nur hinsichtlich des Ausmaßes von Tod und Zerstörung, sondern auch in Bezug auf die Mobilisierung der Bevölkerung der kriegführenden Länder. Die Regierungen der imperialistischen Staaten bemühten sich, zu diesem Zweck ihrer Kriegspolitik eine entsprechende Legitimität zu verschaffen. Während im Bürgertum im Sommer 1914 tatsächlich Begeisterung für den Krieg vorherrschte, musste in der Arbeiterklasse „Überzeugungsarbeit“ geleistet werden. Die Kriegspropaganda von damals kommt einem vor dem Hintergrund der Kriegsvorbereitung gegen Russland und China erschreckend bekannt vor.

Die deutsche Reichsregierung unter Führung des Liberalen Theobald von Bethmann Hollweg erklärte der deutschen Öffentlichkeit seit Ende Juli 1914 den drohenden Krieg als „Verteidigungskrieg“ angesichts existenzieller Bedrohung. Zur Hauptgefahr wurde dabei das zaristische Russland stilisiert. Am 3. August veröffentlichte die Regierung ein „Weißbuch“ zum Kriegsbeginn mit dem wenig subtilen Untertitel „Wie Russland Deutschland hinterging und den europäischen Krieg entfesselte“. Die deutsche Sozialdemokratie folgte der Regierung in ihrer Propagandalüge. Schon am 31. Juli, die Partei war offiziell noch auf Friedenskurs, gab Friedrich Stampfer, Redakteur der Parteizeitung „Vorwärts“, den Ton vor: „[W]enn kein Opfer mehr hilft, um das Verhängnis aufzuhalten, wenn wir uns dann der namenlosen Schändlichkeiten erinnern, die der Zarismus an seinen eigenen Volksgenossen verübt hat, wenn wir uns weiter vorstellen, die Schergen dieser barbarischen Gewalt könnten als trunkene Sieger unser Land betreten, dann dringt ein Schrei über unsere Lippen: Nur das nicht!“ Die marxistische Analyse, mit der man noch wenige Tage zuvor gegen den Krieg mobilisiert hatte, war vergessen. Das Bewusstsein, dass es sich bei dem drohenden Krieg um einen solchen zwischen imperialistischen Mächten handle und das Deutsche Reich daher in beträchtlichem Maß für seinen bevorstehenden Beginn verantwortlich sei, wurde übertönt von der Androhung „kosakischer Bestialitäten“.

In der Debatte über die Kriegskredite im Reichstag am 4. August erklärte Bethmann Hollweg fälschlich, französische Flieger hätten Bomben über Deutschland abgeworfen und die Mobilmachung der russischen Armee ziele auf den Angriff auf Deutschland und Österreich-Ungarn. Mit dieser Bedrohung rechtfertigte er den Angriff auf Frankreich und selbst die Besetzung des neutralen Belgiens – ein glatter Völkerrechtsbruch: „Wer so bedroht ist wie wir und um sein Höchstes kämpft, der darf nur daran denken, wie er sich durchhaut!“

„Es ist ein Konflikt zwischen Rechtsstaatlichkeit und dem Recht des Stärkeren, zwischen Demokratien und Autokratien, zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer Welt der blanken Aggression. (…) Ja, der Schutz unserer Freiheit hat seinen Preis. Aber es ist ein Kampf, den wir führen müssen. Und wir sind bereit, die Kosten zu tragen. Denn Freiheit hat kein Preisschild. (…) In diesen Tagen steht die unabhängige Ukraine vor ihrer dunkelsten Stunde. Gleichzeitig halt das ukrainische Volk die Fackel der Freiheit stellvertretend für uns alle aufrecht. Die Ukrainer beweisen einen unermesslichen Mut. Sie kämpfen um ihr nacktes Leben. Sie kämpfen aber auch für universelle Werte und sind bereit, für sie zu sterben.“

Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin, in einer Rede am 1. März 2022.

Die Propaganda vom „Verteidigungskrieg“ stand im krassen Widerspruch zu den Kriegszielen, wie sie von der deutschen Führung diskutiert und einen Monat nach Kriegsbeginn erstmals formuliert wurden. Am 9. September, die deutschen Truppen waren bei ihrer „Verteidigung Deutschlands“ gerade bis zu 40 Kilometer an Paris herangerückt, postulierte Bethmann Hollweg im sogenannten Septemberprogramm als Kriegsziele unter anderem: Annexionen in Nordostfrankreich und Belgien sowie ein Zurückdrängen Russlands von der deutschen Grenze; hohe französische Reparationen; „ein Handelsvertrag, der Frankreich in wirtschaftliche Abhängigkeit von Deutschland bringt“; „die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen“, um die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands zu stabilisieren; sowie die Erniedrigung Belgiens zum Vasallenstaat. An den Beratungen über dieses Programm waren neben verschiedenen Regierungsbehörden auch der Industrielle Walther Rathenau (AEG) und der Bankier Arthur von Gwinner (Deutsche Bank) beteiligt. Die verschiedenen deutschen Kapitalfraktionen und ihre politischen Vertreter sollten auch noch während der folgenden Kriegsjahre über die richtigen Kriegsziele diskutieren und Programme entwerfen, die sich vor allem im Ausmaß des Größenwahns voneinander unterschieden. Während die Schwerindustrie und der Alldeutsche Verband weiträumige Annexionen in Ost und West forderten, bevorzugten die Vertreter der neuen Industrien (Elektro und Chemie) ein Konzept der wirtschaftlichen Durchdringung und indirekten Beherrschung Mitteleuropas, wie es der Linksliberale Friedrich Naumann 1915 vorgeschlagen hatte.

„Natürlich sind viele Russinnen und Russen weiterhin Putinfans oder schlicht apathisch. Ich gebe mich da keiner Illusion hin. Die Sanktionen wirken langsam und nicht so, wie wir uns das alle gewünscht haben. Aber die Möglichkeiten Russlands engen sich ein. Auch Russland könnte irgendwann die Luft ausgehen. Die russische Wirtschaft stellt ein Bruchteil von dem dar, was wir in Europa ökonomisch in die Waagschale zu werfen vermögen. Es muss doch möglich sein, dass wir uns perspektivisch militärisch so aufstellen, dass wir den russischen Imperialismus nicht nur in der Ukraine, sondern im gesamten östlichen Europa stoppen können. Nur so kann es wieder Frieden und Sicherheit für ganz Europa geben.“

Michael Roth, „SPD-Außenexperte“, in der „Frankfurter Rundschau“ am 25. März 2024 zur Perspektive der Ukraine über das Jahr 2024 hinaus.

Obwohl der deutsche Imperialismus schon bald keinen Hehl mehr aus seinen expansiven Ambitionen machte, strickte auch die Sozialdemokratie nach ihrer Zustimmung zu den Kriegskrediten weiter an der Geschichte vom „Verteidigungskrieg“, der Deutschland aufgezwungen worden sei. Die Parteiblätter, aber auch die Organe der Gewerkschaften füllten sich mit Artikeln, die den Krieg als gerechte Verteidigung gegen das unzivilisierte Russische Reich umschrieben. Stellvertretend sei hier die Erklärung der Leitung der Konsumvereine zitiert: „Es ist in dieser Situation überflüssig zu prüfen, ob das Furchtbare, das wir demnächst durchleiden müssen, vermeidbar war oder nicht. Der Krieg steht vor der Tür und mit ihm die Schicksalsstunde des deutschen Volkes und des deutschen Vaterlandes. Gewollt hat ihn sicherlich das deutsche Volk in seiner überwältigenden Mehrheit nicht; aber wenn das russische Zarentum und seine echtrussischen Spießgesellen Deutschland in den Staub treten wollen, dann haben alle Erwägungen darüber, warum es so gekommen ist, zurückzutreten hinter der gebieterischen Pflicht, die nationale Existenz, das deutsche Volkstum und damit zugleich Kultur und Gesittung vor dem menschheitsschändenden russischen Knutenregiment zu schützen.“ Aber auch in allgemeiner Hinsicht hatte sich der Ton in kürzester Zeit geändert: So erklärte Joseph Bloch in den „Sozialistischen Monatsheften“, Organ des rechten SPD-Parteiflügels, im August 1914 stolz, er habe erkannt, „dass die wahre Internationalität eben darin besteht, dass man der eigenen Nation freie Bahn schafft, ihre Kräfte zu entfalten“. Damit befand er sich voll und ganz auf einer Linie mit Bethmann Hollweg.

3713 russ grenzsoldaten 1914 1 - „Kosakische Bestialitäten“ - 1. Weltkrieg, deutscher Imperialismus, Kriegsverbrechen, Sozialdemokraten - Theorie & Geschichte
Deutsche Propagandapostkarte aus dem Ersten Weltkrieg (Bild: gemeinfrei)

Als gegen Ende des Jahres die Frontverläufe feststeckten und bereits zigtausende deutsche Soldaten gefallen waren, machte sich auch im Lager der sozialdemokratischen Kriegsunterstützer Ernüchterung breit. Im Dezember musste sich der österreichische Abgeordnete Karl Leuthner in den „Monatsheften“ der Frage stellen, ob der Krieg noch derselbe sei, dem man im August die Zustimmung gegeben hatte (was er bejahte). In der Frage der Kriegsschuld rückte nun, passend zur heftigen antibritischen Stimmung in der Bevölkerung, Britannien in den Fokus der rechten Sozialdemokraten. Ludwig Quessel, außenpolitischer Redakteur der „Monatshefte“, betätigte sich jetzt als heftiger Kritiker des ausländischen Imperialismus, namentlich des britischen, und dessen kolonialer Eroberungen während der vorangegangenen Jahrzehnte. Im gegenwärtigen Krieg gegen Deutschland sei „die russische Großfürstenpartei genauso das Werkzeug des britischen Imperialismus […] wie die französische Republik“, liefen daher alle „Fäden des Kriegskomplotts“ in der Londoner Downing Street zusammen.

Mit längerer Dauer des Krieges rückten die Zuweisungen der Kriegsschuld durch die verschiedenen Regierungen in den Hintergrund. Nun kam es darauf an, die Motivation der Bevölkerung trotz der Opfer und Entbehrungen des Krieges mit den Mitteln der Propaganda hochzuhalten. Zudem versuchten beide Seiten, die Öffentlichkeit der anfänglich neutralen Staaten wie der USA oder Italiens zu beeinflussen. Die Tatsache, dass alle imperialistischen Mächte den Weltkrieg als „Verteidigungskrieg“ darstellten, führte dazu, dass Kriegspropaganda auch als Antikriegspropaganda auftrat – als Kritik an der Kriegführung der Gegenseite. Als die Kaiserliche Armee im Zuge ihres Überfalls auf Belgien rund 6.500 Zivilisten als vermeintliche Partisanen standrechtlich erschoss und ganze Viertel belgischer Städte niederbrannte, wurde dies von der britischen und französischen Kriegspropaganda breit skandalisiert. Während die Deutschen ihren russischen Gegner als verlausten und unzivilisierten Haufen darstellten, erschienen sie selbst in der westlichen Öffentlichkeit inzwischen als die „neuen Hunnen“. Die deutsche Regierung konnte sich gegen die Vorwürfe nur rechtfertigen, indem sie einen angeblichen belgischen Guerillakrieg erfand, in dem Freischärler aus dem Hinterhalt und Priester von Kirchtürmen auf deutsche Soldaten feuerten. Auch bei dieser Kriegslüge sprang die Sozialdemokratie ihrer Regierung zur Seite und leugnete öffentlich die deutschen Kriegsverbrechen in Belgien.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"„Kosakische Bestialitäten“", UZ vom 13. September 2024



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Haus.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit