„Mindestlohn runter, Arbeitszeit hoch“ heißt das Krisenkonzept von Unionspolitikern. Sie zeigen damit Kontinuität. Versuche der Kapitalseite, den gesetzlichen Mindestlohn von derzeit 9,35 Euro zu umgehen, sind so alt wie das Gesetz selbst, das 2015 in Kraft trat.
Neben dem Ausnutzen von Gesetzeslücken und Ausnahmeregelungen schrecken einige Unternehmer auch vor kriminellen Praktiken nicht zurück. Laut DGB wurden Beschäftigte, die ihre Arbeitskraft im Mindestlohnsegment verkaufen müssen, seit 2015 um 14,5 Milliarden Euro betrogen.
Unmittelbar nach Inkrafttreten des Gesetzes hatten sich Anwaltskanzleien und Wirtschaftsakademien auf Seminare spezialisiert, die ihren Klienten „Gestaltungsspielräume und kreative Rechtsanwendungen“ beim Mindestlohn versprachen. Zu diesen dort vermittelten „Gestaltungsspielräumen“ gehört es zum Beispiel, Umkleidezeiten bei der Arbeitszeit nicht mehr zu berücksichtigen. Eine beliebte „kreative Rechtsanwendung“ ist es, bei Anhebung des Stundenlohns auf das gesetzliche Minimum gleichzeitig Zulagen zu kürzen oder diese ganz zu streichen. Eine andere bekannt gewordene Methode, den Mindestlohn zu umgehen, war es, Mini-Jobber dazu aufzufordern, ihre Tätigkeit über die Lohnsteuerkarte des minderjährigen Kindes laufen zu lassen, weil dann der Mindestlohn nicht fällig wird.
Angesichts nur weniger und meist ineffektiver Kontrollen zur Einhaltung des Mindestlohngesetzes ist es kein Wunder, dass nicht korrekt erfasste Arbeitszeiten, unbezahlte Überstunden und andere Schweinereien im Niedriglohnsektor an der Tagesordnung sind. Damit die jahrelangen Betrügereien beim Mindestlohn endlich ein Ende haben, müsste der Zoll mit seiner Unterbehörde „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“ gestärkt und auch personell besser ausgestattet werden.
Wie gut staatliche Kontrolle bei anderer Gelegenheit funktionieren kann, darüber können Bezieher von Hartz IV ein Lied singen. Allerdings ist zu bezweifeln, dass in Zukunft Verstöße gegen das Mindestlohngesetz genauso streng kontrolliert werden wie das Beziehen staatlicher Transferleistungen. Schließlich war die Schaffung eines gigantischen Niedriglohnsektors kein Betriebsunfall. Im Gegenteil, dies war politisch und ökonomisch genau so gewollt. Niedrige Löhne in Verbindung mit einer extrem hohen Produktivität sind das Markenzeichen und der Wettbewerbsvorteil eines auf Export orientierten deutschen Kapitalismus.