Die Bolivarianische Revolution im lateinamerikanischen Umfeld

Kontra Venezuela?

Von Günter Pohl

Die Straßenaktionen der gewalttätigen Teile der Opposition sind nach den für die Regierung erfolgreichen Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung vorläufig zu Ende gegangen, aber die Lage in Venezuela bleibt zugespitzt. Und sie lässt sich vielfältig verwenden.

Die lokale und regionale Rechte sieht darin die Chance, sich als Verteidigerin demokratischer Freiheiten aufzuspielen – so absurd es angesichts der geschichtlichen Erfahrungen auch ist. Und das Kapital Venezuelas, das Kapital mancher Nachbarländer und der seit dem Kalten Krieg zweckgerichtet mit ihm verbundene US-Imperialismus will sich mittelfristig den Zugriff auf die Ölressourcen des Landes sichern. Allerdings wohl jeder für sich.

Obwohl hierbei also irrationale und rationale Kräfte an der gleichen Sache zu arbeiten scheinen, ist neben Alarmbereitschaft auch vorsichtige Gelassenheit angebracht. Bereitschaft hinsichtlich der Gefahr einer Invasion, die US-Präsident Trump auf seine inzwischen gewohnte Art in Aussicht gestellt hat; vorsichtige Gelassenheit, weil das Kapital und mit ihm der militärisch-industrielle Komplex der USA die Gefahr der Ausbreitung dessen, was die Bolivarianische Revolution ideologisch aufbietet, realistischerweise als limitiert ansehen.

Denn da es mindestens ab 2006 immer wieder an treibenden, praktischen Schritten von einer gewissermaßen ideellen hin zu einer auch materiellen Revolution gefehlt hat – selbst als die Opposition sich durch ihre Totalverweigerung aus dem Parlament katapultiert hatte – geriet man in die Defensive: Es stand bald mehr der Kampf um die Verteidigung der sozialen Errungenschaften im Mittelpunkt als selbst Impulsgeber für den wirklichen Wandel zu sein. Die Gewissheit, im Zusammenspiel mit den ALBA-Staaten in der Region ein Gegengewicht zu den Interessen des Gegners zu sein, schloss und schließt die praktische Solidarität mit der Kubanischen Revolution ebenso ein wie Antiimperialismus, wenn auch für viele Funktionäre der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei dieser Begriff sicher vereinfacht als „Anti-Yankee-Haltung“ zu umschreiben und damit ideologisch weitgehend entleert ist. Andererseits ist diese Haltung natürlich ein mobilisierender Faktor, auf den der größte Teil der Linken der Region zurückgreift.

Mit der Notwendigkeit ist schnell auch die Bereitschaft gewachsen, sich auf einen möglichen Überfall der Vereinigten Staaten vorzubereiten. US-Vizepräsident Mike Pence hatte im August bei einer Rundreise durch Kolumbien, Argentinien, Chile und Panama für eine weitergehende Isolierung Venezuelas geworben. Dazu passt das vom Südkommando der US-Streitkräfte (SouthCom) organisierte Treffen südamerikanischer Militärs, das vergangene Woche in Lima stattfand. In einem öffentlich gewordenen Bericht „Freiheitsoperation Venezuela“ vom Februar 2016 wird zur Anstachelung innerer Unruhen angeraten, um dann internationalen Druck auf die fortschrittliche Regierung zu nutzen – womit einer militärischen Invasion zur „Wiederherstellung der Demokratie“ die Bahn geebnet wäre. Diese Phase geht Trump gerade an; ob das Pentagon und eine Mehrheit des Abgeordnetenhauses dabei mitgehen, ist dagegen fraglich.

Die möglichen Widerstände in den USA dürften zu einem großen Teil mit dem Zielgebiet selbst zu tun haben, denn ein Fünftel der US-Bevölkerung hat Latino-Wurzeln. Der Ärger an der Heimatfront wäre also ungleich größer als wenn man Bagdad, Damaskus oder Teheran bombardiert. Und in Lateinamerika selbst sind Invasionen durch die USA schon gar nicht einfach zu vermitteln, weshalb für dieses Ansinnen auch nirgendwo Beifall gespendet wurde – vom kolumbianischen Rechtsaußen, Ex-Präsident Uribe, abgesehen, der eine direkte Invasion Venezuelas und den Sturz Nicolás Maduros forderte. Die Wirtschaftssanktionen der USA sind dagegen weniger umstritten. Das hat auch damit zu tun, dass schon Trumps Vorgänger Barack Obama mit der Behauptung, Venezuela sei eine außerordentliche Bedrohung für die Sicherheit der Vereinigten Staaten, im März 2015 vorgeprescht war und mehr oder weniger nur die radikalere Linke empört protestiert hatte. Und im Kern werden mit dem Verbot, mit neu ausgegebenen Staatsbonds zu handeln, vor allem die russischen und chinesischen Investoren getroffen, die gerade Verträge mit Venezuelas Ölgesellschaft PdVSA abgeschlossen haben. Mittelfristig soll Venezuela in der Folge nicht mehr in der Lage sein, seine Auslandsschulden zu bedienen. Viel deutet darauf hin, dass diese Variante gegenüber der militärischen nicht nur die erfolgversprechendere, sondern auch die insgeheim einzig angewendete ist.

Der faktische Hinauswurf Venezuelas aus dem stärksten Wirtschaftsverbund Südamerikas, dem MerCoSur (Gemeinsamer Markt des Südens), zeigt, dass das Land mit Solidarität von Seiten Brasiliens und Argentiniens nicht rechnen kann, die heute beide von rechts-konservativen Präsidenten regiert werden. Ebenso wenig von den ähnlich regierten Ländern Paraguay und Peru – ganz zu schweigen von Kolumbien, mit dem man seit langem im Streit ist. Schon jetzt sickern immer wieder paramilitärische Gruppen aus dem Nachbarland in Venezuela ein; nach den nächsten Wahlen würde ein Sieg des Uribe-Lagers neue Probleme bringen.

Insgesamt lässt sich schließen, dass ein militärischer Angriff durch die USA zwar nicht akzeptiert ist, aber der Sturz eines linken Präsidenten und mit ihm die Idee demokratischer Partizipation aller Volksschichten, der größten Errungenschaft der Bolivarianischen Revolution, scheint den Nachbarregierungen angemessen. Und das offenbar nicht nur den rechten. Uruguay votierte ebenfalls für die Suspendierung Venezuelas aus dem MerCoSur, Chile gab den Einpeitscher bei den Beratungen der OAS. Eine so genannte „Gruppe von Lima“, gebildet aus Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Chile, Costa Rica, Honduras, Kanada, Guatemala, Paraguay, Peru, Mexiko und Panama, hat am 18. August die Anwendung der „Demokratischen Charta“ der OAS gegen Venezuela verlangt – ohne die USA, aber zweifellos in ihrem Sinne.

Wie praktisch, denn ganz grundsätzlich gehörten andere Themen auf die Tagesordnung dieser Institution: massenhafte Tötungen in Mexiko durch das organisierte Verbrechen, das Niedermetzeln der Linken in Kolumbien, die Umweltverbrechen von Bergbaukonzernen in Peru, die Urwaldrodungen in Brasilien, die Mi­grationskrisen in Zentralamerika und Mexiko, der Sozialabbau in Argentinien, die verheerende Bergbaupolitik in den meisten Andenstaaten … fast alle haben ein Interesse, dass über andere Themen gesprochen wird. Auch deshalb das fanatische Zeigen auf Venezuela, auch wenn es sich im Einklang mit den in der Region unbeliebten Vereinigten Staaten befindet.

All das ist angesichts der Geschichte des lateinamerikanischen Kontinents und der panamerikanischen Doktrin der US-Politik, die unzählige Invasionen und Putsche verantwortet, selbst unter Berücksichtigung von Rechtsregierungen, von außen nicht einfach verständlich. Noch weniger nachvollziehbar sind solche Verurteilungen, wenn sie auch noch von Ländern kommen, deren Regierungen sich selbst als links verorten. Aber dass sich die europäischen Staaten, die fast alle Opfer deutscher Überfälle und Verbrechen wurden, wenige Jahrzehnte später de facto freiwillig unter Deutschlands Führung begeben, ist in Lateinamerika ja auch nicht einfach zu begreifen. Ebenso wenig wie hier.

Für die Regierungen in den umliegenden Ländern haben die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung am 30. Juli einen Doppelcharakter gehabt, was ihre Reaktionen umso heftiger machte. Zum einen ist das Argument, die Einberufung der Wahlen zur Erstellung einer neuen Verfassung sei ein Instrument der Flucht vor der Realität der Ende 2018 anstehenden Präsidentschaftswahlen, nicht völlig von der Hand zu weisen. Präsident Nicolás Maduro hatte eher mäßige Aussichten, diese Wahlen für sich zu entscheiden, ein erfolgreicher Verlauf des Verfassungsprozesses kann das ändern. Das wird ihm als undemokratisch vorgeworfen, und hier sind insbesondere die Argumente der moderat-linken Gegner der venezolanischen Regierung zu finden. Zum anderen ist die urdemokratische Form, immer und immer wieder das Volk zu befragen, wie es in Venezuela seit Inkrafttreten der Verfassung im Jahr 2000 gemacht wird, etwas, was den Regierungen in Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru oder Argentinien durchaus berechtigte Angst machen darf. Dieses Beispiel darf nicht Schule machen, sondern es muss als „sozialistisch-diktatorisch“ gebrandmarkt werden. Hier begründen sich die Angstbeißereien manches Präsidenten oder Ministers sowie der vereinigten Medienfront gegen Venezuela.

Nur Bolivien, Kuba, Nicaragua und Ecuador stehen an der Seite Venezuelas, neben der Karibikgemeinschaft CARICOM, die aufgrund der schon historischen Konzertierung ihrer Außenpolitik in der OAS alle ihre Stimmen immer gleich vergibt. Daher die Mehrheiten gegen die Anwendung der „Demokratischen Charta“ gegen Venezuela. Wie lange Ecuador noch zu diesem Kreis gehört, ist angesichts der andauernden Regierungskrise mit öffentlichen Vorwürfen zwischen Präsident Lenin Moreno und Vizepräsident Jorge Glas unklar. Hinzu kommt ein gewisser Migrationsdruck just aus Venezuela, wo über Wochen täglich zweitausend Menschen in das Land einreisten, zuletzt allerdings etwas weniger.

Venezuela hat das Recht auf eine selbst gewählte Regierungsform. Eine mitentscheidende Kraft bei der Verteidigung der Bolivarianischen Revolution sind aber nicht nur Regierungen, sondern natürlich die Menschen auf der Straße. Zuallererst die in Venezuela selbst, aber darüber hinaus auch die aus aller Welt. Am 16./17. September wird in Caracas das Welttreffen der Solidarität mit Venezuela stattfinden. Es kann ein neuerlicher Wendepunkt zu Gunsten der fortschrittlichen Kräfte Lateinamerikas sein, wenn es gelingt, die Bolivarianische Revolution nicht nur zu verteidigen, sondern auch aus ihrem Stillstand zu holen. Nicht nur dafür wäre eine stärkere Rolle der Kommunistischen Partei Venezuelas in der Politik des Landes notwendig.

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"Kontra Venezuela?", UZ vom 1. September 2017



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