Seit diesem Sommer hat eine Reihe von mehreren Attentaten innerhalb weniger Tage für eine belastende Atmosphäre gesorgt. Die Gefahr wuchs ständig, wurde diffuser und komplexer. Kleine Städte sind ebenso betroffen wie große, die Anschlagsziele werden vielfältiger, die verwendeten Waffen befinden sich in Reichweite eines jeden Einzelnen: eine Axt, eine Machete, ein LKW.
Dem französischen Terrorismusexperten Gilles Kepel zufolge „ist die Aufforderung des Aufrufs des IS, die ‚Ungläubigen‘ zu bekämpfen, diejenige, den Dschihad sozusagen allein ‚zu Fuß‘ zu bewerkstelligen. Keine besonderen Order oder ausgefeilte Logistik. Der IS ist der Mühe entledigt, seine Männer anzuleiten, damit sie seine Mission erfüllen.“ (Le Soir, 18.7.2016)
Instabile Menschen, die eigentlich eine psychiatrische Behandlung benötigen, benutzt der IS, um deren Suizidgedanken einen (Wahn)-Sinn zu geben. Die Unvorhersehbarkeit der Anschläge ist allgegenwärtig und daher umso erschreckender.
Wir haben das Recht zu erfahren, was alles getan wird, um die Angriffe zu verhindern oder zumindest die Folgen zu begrenzen. Um das Risiko zu verringern, gibt es einige einfache Schritte, große Versammlungen zu schützen. Doch die prinzipielle Frage bleibt: Wie kann man die Anschläge vermeiden?
Nach den Anschlägen auf „Charlie Hebdo“ kündigte die Regierung 12 Maßnahmen gegen den Terrorismus an, nach den Anschlägen in Paris im November 2015 nochmals 18. Die europäischen Institutionen haben seit dem 11. September 2001 239 Gesetze, Richtlinien und andere Maßnahmen erlassen. Das ist enorm, eine Bewertung bzw. Untersuchung über die Wirksamkeit dieser Maßnahmen hat nicht stattgefunden. Diese Debatte ist aber dringend notwendig.
Breite Allianz gegen die Dschihadisten und ihre Anwerber
Allerdings ist es bisher nicht gelungen, den Sumpf trocken zu legen, aus dem die Dschihadisten ihre „Heiligen Krieger“ rekrutieren. Es ist uns bislang nicht gelungen, gemeinsam mit allen Beteiligten den Kampf gegen die Ideen und die Logik der Dschihad-Indoktrination aufzunehmen. Diejenigen, die von einem Krieg der Religionen oder Kulturen sprechen, schwächen diesen Kampf.
Hakima, die von einem Algerier in Charleroi schwer verletzte Polizistin, ist selbst algerischer Herkunft. Und der Killer von Nizza war Lichtjahre von islamischer Religionspraxis entfernt. Im Gegenteil, unter seinen Opfern waren ein Drittel Menschen aus Nordafrika, vor allem Muslime.
Der Kampf gegen den IS kann nicht ohne die Beteiligung und aktive Unterstützung der großen Mehrheit der Muslime erfolgen. Die Dschihad-Indoktrination geschieht nicht vornehmlich in den Moscheen. Wenn ganze Stadtteile stigmatisiert und deren Bevölkerung des Dschihadismus verdächtigt werden, ist dies unverantwortlich. Genau das geschieht, wenn der Bürgermeister von Antwerpen Bart De Wever (Vorsitzender der Partei Nieuw-Vlaamse Alliantie – N-VA) von „einem Krieg für die totale Zerstörung unserer überlegenen, modernen Zivilisation, geleitet von einer Ideologie – dem radikalen Islam –, die eine gewisse Unterstützung unter den Menschen genießt, die hier geboren wurden“ spricht.
Das ist es, wenn der Minister des Innern Jan Jambon (NV-A) ohne den geringsten Beweis behauptet, „dass ein wesentlicher Teil der muslimischen Gemeinschaft anlässlich der Anschläge getanzt“ habe, oder ankündigt, er würde „Molenbeek reinigen“.
Im Gegensatz zu diesem Ansatz reagierte die Bevölkerung von Saint-Étienne-du-Rouvray und die religiösen Führer Frankreichs. Sie brachten in gegenseitigem Respekt ihre Ablehnung dieses Krieges der Religionen zum Ausdruck. Damit durchkreuzen sie die Strategie des IS, einen Zyklus von Gewalt zwischen Muslimen und der äußersten Rechten auszulösen, in der Hoffnung, neue Mitglieder unter den Muslimen zu rekrutieren.
Den Kampf gegen die Anwerbung gewinnen
Eltern, Verbände und Lehrer in den Migrationsvierteln benötigen unmittelbare Hilfe gegen die Rekrutierungsbemühungen der Dschihadisten und keine Hasstiraden.
Der Mörder des Priesters von Saint-Étienne-du-Rouvray radikalisierte sich in weniger als drei Monaten vor den Augen seiner hilflosen Familie. Seine Mutter erklärt, „dass er ein freundliches, nettes Kind gewesen sei, der die Musik liebte und mit Freunden ausging, abstinent gelebt, regelmäßig die Moschee besucht und seiner nicht-praktizierenden Familie Unterricht erteilt habe.“ Nun sind die Eltern völlig ratlos.
In ähnlicher Weise sind Schulen und Lehrer sich selbst überlassen. Bevor wir von der radikalisierten Jugend sprechen, sollten wir von denen sprechen, die es noch nicht sind, aber radikalisiert werden können. Dabei sollten die Jugendlichen mit allen verfügbaren Mitteln (Bücher, Filme etc.) gewarnt werden, um die Propaganda einfallsreich zu konterkarieren und die Ideologie der Dschihadisten zu bekämpfen.
Der Aufbau eines föderalen Präventionsdienstes gegen Dschihad-Indoktrination, wie von der PTB vorgeschlagen, kann in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle spielen. Familien, Schulen oder Verbände könnten beraten und individualisierte Konzepte erstellt werden. Es sollten multidisziplinäre Angebote für jeden Jugendlichen erstellt werden, die sowohl Wiedereingliederungsmaßnahmen als auch Deeskalations- und Anti-Indoktrinationsprogramme umfassen, je nach Bedarf. Dies geschieht entweder auf freiwilliger Basis oder die Maßnahme wird richterlich angeordnet. In Quebec arbeitet ein solcher Dienst bereits erfolgreich.
Auf der anderen Seite benötigen wir den sozialen Zusammenhalt, um gegen Diskriminierung und Reglementierung kämpfen zu können. Für viele junge Menschen basiert der Bruch mit der Gesellschaft auf realen Erfahrungen und der Kritik an den realen gesellschaftlichen Bedingungen. Dies ist der Nährboden des IS.
Sozialarbeiter schlagen seit Jahren Alarm. Prävention gelingt zunächst durch Integration. Die Massenarbeitslosigkeit und die Rassendiskriminierung erleichtern die Arbeit der Anwerber des IS, die mit ihrem „Die anderen gegen uns“ den jungen Menschen versprechen, ihre Sorgen durch den Verlust ihres Lebens hinter sich zu lassen.
Eine effektivere Bestrafung der Anwerber und Propagandisten
Die Bestrafung von Aussagen zur Anstiftung zum Hass und zu terroristischen Taten muss konsequent verfolgt werden. Artikel 140/2 des Strafgesetzbuches zu terroristischen Straftaten besagt, dass die Vorbereitung, Rekrutierung und Anstiftung zu einer terroristischen Tat strafbar sind. Das gleiche gilt für die Anstiftung zu Diskriminierung, Hass und Gewalt. Ein Richter hat die Möglichkeit, jede Person, die solcher Handlungen verdächtig ist, zu untersuchen und ihre Inhaftierung zu veranlassen.
Wir brauchen dafür keine neuen Gesetze, wie es die NV-A fordert. Sie tritt „für die Begrenzung der Meinungsfreiheit“ ein. Wir brauchen aber ein konsequentes Verhalten gegenüber den Säern des Hasses, von welcher Seite auch immer sie kommen, sowie gleichzeitig die Schließung der Orte der Prediger, lokal als auch im Internet, an denen man zum Terrorismus und zum Hass aufruft. Das Problem ist bis jetzt, dass zu wenig unternommen wurde, diese Spuren zu verfolgen. Ein Bericht von 2015 des Kontrollkomitees (Komitee P) der Polizei merkt an, dass nur ein einziger Mitarbeiter dafür verantwortlich war, die Radikalisierung der sozialen Medien zu verfolgen. Inzwischen hat das Internet Referral Unit (IRU), eine neue Einheit der Bundespolizei, die aus zehn (bald 30) Agenten besteht und verantwortlich für den Kampf gegen radikale Inhalte ist, 241 Portale geschlossen.
In die lokale Polizei investieren
Die Informationen der lokalen Polizei und ebenso die Informanten werden vernachlässigt. Seit dem Sommer 2014 warnte die örtliche Polizei von Molenbeek vor der Gefahr eines Angriffs im Zusammenhang mit den Abdeslam-Brüdern. Aber die Generalstaatsanwaltschaft schließt die Akte am 29. Juni 2015.
Ende 2015 überbringt ein Polizist in Mechelen eine Information, nach der Abid Aberkane sich radikalisiert und Kontakte mit den Abdeslam-Brüdern habe. Sein vorgesetzter Kommissar gibt die Information, dass Aberkane dort gelebt hat, wo sich Saleh Abdeslam im März 2016 versteckt hatte, nicht weiter, weil er seinem Polizisten, der arabischer Herkunft ist, nicht vertraute …
Zahlreichen Experten zufolge muss man sich auf das gezielte Sammeln von Daten konzentrieren, sich auf die Verdächtigen, die eine echte Gefahr darstellen, konzentrieren und in eine bessere Behandlung und Verfolgung von Informationen investieren.
Aber die Regierung zieht es vor, die Armee in den Straßen patrouillieren zu lassen und den Kauf von Panzern zu ermöglichen. Sie verwendet drei Viertel ihres speziellen Anti- Terror-Budgets von 400 Millionen darauf, die Mitarbeiter der Ordnungskräfte zu stärken, und nicht auf die Untersuchung. In Frankreich patrouillieren im Verlauf von 25 Jahren die Polizei und schwer bewaffnete Soldaten in den Städten. Das hat weder den ersten Angriff gegen „Charlie Hebdo“ noch die folgenden verhindert. Es ist keine Refinanzierung der örtlichen Polizei ins Auge gefasst worden, die durch die Austeritätspolitik untergraben worden war. Während es doch gerade die lokale Polizei ist, die Nähe und Kontakt zu den Schwächsten der Gesellschaft hat.
In Informationen ertrinken
Die Regierung sieht auch vor, hunderttausende von Daten zu sammeln, indem sie das Netz von Videokameras noch vergrößert sowie durch eine Kontrolle aller Nummernschilder und durch das Einrichten einer riesigen Datenbank, die alle Passagierdaten sämtlicher Flüge, Busse, Züge und Schiffe speichert.
Das Problem ist allerdings nicht das Fehlen der Befugnisse der Nachrichtendienste oder das Fehlen von Informationen, sondern das Fehlen von Mitteln sie zu bearbeiten. In Frankreich befinden sich nahezu alle Täter der jüngsten Angriffe in der Akte S14, welche die potentiellen Dschihadisten enthält.
Auch die belgischen Angreifer waren der Polizei bekannt oder wurden durch die Nachrichtendienste verfolgt. Aber die Nachrichtendienste sowie die Sicherheit wie auch die Untersuchungsrichter haben unter der Austerität gelitten: Ihnen wurden weder die richtige Ausrüstung noch die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt. Der Bericht des Komitees P merkt an, dass die Datenbank des DJSOC/Terror für ein Jahr bis zum Sommer 2015 außer Betrieb gewesen ist.
Freiheiten beschränken: Ein Sieg für IS
De Wever möchte den Bürgermeistern oder der Polizei die Möglichkeit geben, jemanden festzuhalten, abzuhören, beschatten zu lassen oder seine E-Mails zu lesen und zwar ohne richterliche Anordnung.
Das gibt es bereits in Frankreich seit dem Inkrafttreten des Gesetzes über den Ausnahmezustand. Eine Untersuchungskommission zur Bekämpfung des Terrorismus hat am 5. Juli festgestellt, dass der Ausnahmezustand nur eine „begrenzte Wirkung“ für die Sicherheit gehabt hat.
Im Rahmen des Notstandes hat die Polizei fast 3 600 Untersuchungen durchgeführt sowie 400 Personen vorgeladen, darunter auch politische Aktivisten. Bis dahin haben diese Maßnahmen lediglich zur Eröffnung von nur sechs Verfahren im Zusammenhang mit Terrorismus geführt. Im Gegensatz dazu haben mehr als etwa 30 dieser Operationen folgenreiche Konsequenzen für die Betroffenen gehabt, wie zum Beispiel den Verlust des Arbeitsplatzes, Traumatisierungen der betroffenen Kinder und Schäden in den Wohnungen der untersuchten Menschen.
De Wever tut so, als ob man heute keine anderen präventiven Maßnahmen hätte, gegen Verdächtige vorzugehen. Die Justiz muss aber über solche individuellen Überprüfungsmaßnahmen wie das Abhören und Auswerten des Mobilfunkverkehrs eines Verdächtigen entscheiden und nicht ein Bürgermeister oder Polizeikommissar.
Die Gewaltenteilung ist eines der Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit. Die Justiz sollte Schutz vor Willkür bieten und ein Gegengewicht zur Exekutive sein. Ohne diese Gewaltenteilung und mit dem Zur-Seite-Legen des rechtlichen Gegengewichts würde ein gefährliches Instrument geschaffen, das leicht gegen den politischen Gegner gewendet werden kann.
Wir kämpfen gegen Terrorismus, weil wir unsere Sicherheit und unsere demokratischen Freiheiten, für die wir hart gekämpft haben, garantieren und erhalten wollen: Meinungsfreiheit, Trennung von Kirche und Staat, Gewaltenteilung, die Gleichstellung von Männern und Frauen, das Diskriminierungsverbot … Wer die Rechtsstaatlichkeit mit Füßen tritt, wird den Terroristen zum Sieg verhelfen.
Andere Ansätze sind möglich
Die belgische Anti-Terror-Politik sollte in der Sache diskutiert werden. Andere Ansätze existieren, wie zum Beispiel in Spanien. Für Baltasar Garzón, einen ehemaliger Richter, der durch die Verhaftung von Augusto Pinochet im Jahr 1998 Berühmtheit erlangt und Dolores Delgado García, Koordinatorin im Kampf gegen den Terrorismus, liegt die Antwort nicht in einer „Logik der Konfrontation“.
„Nach den Anschlägen von Madrid im Jahr 2004“, sagt Dolores Delgado in „De Standaard“ (2.1.2016) „haben wir weder einen Ausnahmezustand ausgerufen noch eine Sondergesetzgebung erlassen. Im Gegenteil, wir haben den Rechtsstaat gestärkt.“ Die erforderliche Koordinierung zwischen den Bereichen Justiz, Polizei und Nachrichtendienst wurde verbessert. „Spezialisierte Magistrate, Übersetzer und Analysten wurden ernannt. Sie arbeiteten mit einem Netzwerk von Informanten, und vor allem, es wurde der Fokus auf die aufmerksame Beobachtung gelegt. (…) Keine Kriegserklärungen oder Rassismus. Gerechtigkeit für die Opfer. Verhaftung und Bestrafung der Täter. Nach drei Jahren waren sie alle vor Gericht. Garantie für die Sicherheit, aber ohne das System zu zerstören, das sie zu verteidigen behaupten.“