Dr. Christine Künzel ist Privatdozentin an der Universität Hamburg, wo sie 2011 mit einer Studie zum Werk Gisela Elsners habilitierte. Seit 2012 ist sie Erste Vorsitzende der Internationalen Gisela Elsner Gesellschaft.
UZ: Sie beschäftigen sich als Literaturwissenschaftlerin seit mehr als zehn Jahren intensiv mit dem Werk der Autorin Gisela Elsner. Was hat Sie dazu veranlasst? Woran ist Ihr Interesse entstanden?
Christine Künzel: Ich hatte den Film „Die Unberührbare“ gesehen und war völlig entsetzt aus dem Kino gegangen, weil ich während meines ganzen literaturwissenschaftlichen Studiums nie von der Autorin Gisela Elsner gehört hatte – und das, wo ich mich unter anderem für vergessene Autorinnen interessierte. Nach dem Filmerlebnis wollte ich wissen, was und wie diese Autorin geschrieben hatte. Ich kaufte mir dann antiquarisch zunächst den Roman „Abseits“, der mir sehr gut gefiel. Dann besorgte ich mir weitere Werke und die Faszination für die Autorin wuchs. Ich überlegte dann schon sehr bald, mich literaturwissenschaftlich mit dem Werk Elsners auseinanderzusetzen. Mir war aber klar, dass es zwar eine Chance, aber auch ein großes Risiko ist, sich mit einer Autorin zu beschäftigen, die von der Literaturkritik verrissen und von der Literaturwissenschaft bis dato völlig vernachlässigt worden und damit aus der Literaturgeschichte herausgefallen war.
Was mich an den Werken Elsners interessierte und faszinierte, war zum einen die für Autorinnen weitestgehend ungewöhnliche Schreibweise, die mittels einer Befremdung des Vertrauten gesellschaftspolitische Einsichten und Erkenntnisse vermittelt, zum anderen die genaue Beobachtung sozialer Unterschiede und Lebensstile. Mir imponiert bis heute auch die Kompromisslosigkeit, mit der Elsner ihren Weg als Autorin verfolgt hat.
UZ: Die Autorin Elsner erlebte nach der Veröffentlichung ihres ersten Romans „Die Riesenzwerge“ (1964) eine große Resonanz in der Literaturkritik. Wie lautet Ihre Beurteilung des Romans?
Christine Künzel: Die nachträgliche Festschreibung der Autorin auf den Erfolg ihres Erstlingswerks hatte fatale Folgen. Ja, Elsner wurde für ihren Erstling gefeiert und mit einem wichtigen europäischen Verlegerpreis ausgezeichnet, dem Prix Formentor. Zugleich – und dessen war sich die Autorin Elsner durchaus bewusst – wurden der Roman und die Auszeichnung in der Literaturkritik überaus kontrovers diskutiert. Es hieß, Elsner habe den Preis lediglich ihrem phänomenalen Aussehen zu verdanken, da war vom „Poesie-Mannequin“ die Rede, und davon, dass sie eigentlich nur die Werke verschiedener männlicher Autoren plagiiert habe (von Günter Grass bis Peter Weiss). Man fühlt sich im Nachhinein an die unsäglichen Kommentare männlicher Literaturkritiker zur Vergabe des Literaturnobelpreises an Elfriede Jelinek erinnert.
Ich selbst bin nicht sicher, ob ich begeistert gewesen wäre, wenn ich meine Elsner-Lektüre mit den „Riesenzwergen“ begonnen hätte. Die Textsammlung, die ja bewusst kein Roman sein will, sondern als „Beitrag“ daherkommt, enthält ein paar ganz großartige Episoden wie „Die Mahlzeit“, „Der Achte“ oder „Die Hochzeit“. Einige der Episoden wirken allerdings sehr stark konstruiert, die finde ich nicht so spannend. Was mich allerdings verblüfft hat, war die Tatsache, dass die Kritik am Umgang mit der NS-Vergangenheit, dem unterschwelligen Fortbestehen faschistischer Strukturen und Denkweisen und der harschen Kritik am bundesdeutschen Wirtschaftswunder von der Literaturkritik kaum wahrgenommen wurde. Das hat offenbar auch Elsner geärgert, was dazu führte, dass sie ihre Schreibweise ab dem Roman „Das Berührungsverbot“ (1970) radikal veränderte. Was wiederum zur Folge hatte, dass die Literaturkritik ihr nun vorwarf, dass man den Stil der „Riesenzwerge“ vermisse.
Ich finde Elsners Entwicklung von einer eher grotesken Schreibweise hin zu einer schärferen Gesellschaftssatire durchaus nachvollziehbar und denke auch, dass sie ihre Gesellschaftskritik mit ihren Satiren wesentlich besser vermitteln konnte. Ich persönlich halte „Die Riesenzwerge“ (bis auf die oben genannten Episoden) nicht für Elsners bestes Werk. Mich haben „Das Berührungsverbot“, „Abseits“ und „Fliegeralarm“ – jeweils auf eine andere Art und Weise – besonders überzeugt.
UZ: Sie sind Herausgeberin der Werkausgabe der Elsner im Verbrecher Verlag. Wie schätzen Sie die Reaktion von Publikum und Kritik auf die Neuherausgabe der Romane, bzw. der Erstveröffentlichungen aus dem Nachlass ein?
Christine Künzel: Ich als jemand, der bibliophil ist und sich viele Bücher antiquarisch besorgt, konnte mir gar nicht vorstellen, was für einen Unterschied es macht, wenn die Werke in Neuauflagen wieder zu haben sind. Ich merke das aber besonders bei den Studierenden. Da werden fast nur Bücher rezipiert, die neu zu haben sind. Und auch die Literaturkritik ist an den Neuauflagen und Erstveröffentlichungen nicht vorbei gekommen. Insofern hat die Werkausgabe im Verbrecher Verlag nicht nur dazu geführt, dass ein großer Teil der Werke Elsners wieder verfügbar ist, sondern auch dazu, dass die Autorin wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist. Hinzu kommt, dass in der Werkausgabe zahlreiche Texte aus dem Nachlass erschienen sind (Romane, Fragmente, Erzählungen und kritische Schriften), die das Bild der Autorin vervollständigen und zeigen, wie umfangreich und vielfältig das Elsnersche Oeuvre ist.
UZ: Seit der Gründung vor fünf Jahren sind Sie Vorsitzende der Internationalen Gisela-Elsner-Gesellschaft. Welche Ziele verfolgt die Gesellschaft? Welche Resonanz erfahren Sie?
Christine Künzel: Die Gesellschaft verdankt ihren Namen einer Erzählung mit dem Titel „Die Auferstehung der Gisela Elsner“ (1980), die die Autorin als eigenen Nachruf in satirischer Manier zu Lebzeiten verfasst hatte. In der Erzählung imaginierte Elsner bereits die Existenz einer Internationalen Gisela Elsner Gesellschaft.
In den nun knapp fünf Jahren ihres Bestehens hat sich diese Gesellschaft nicht allein intensiv um eine Wiederentdeckung, sondern auch um eine Neubewertung der Autorin und ihres Werkes verdient gemacht. Ergebnisse dieser Neuentdeckung sind unter anderem in einem Tagungsband mit dem Titel „Ikonisierung, Kritik, Wiederentdeckung. Gisela Elsner und die Literatur der Bundesrepublik“ (hg. von Michael Peter Hehl und Christine Künzel) nachzulesen, der 2014 in der edition text+kritik erschienen ist.
Was die Elsner-Gesellschaft wie auch die Elsner-Forschung auszeichnet, ist eine intensive und engagierte Beteiligung von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern – sowohl im Vorstand als auch unter den Mitgliedern der Gesellschaft. Auch erscheint die Kooperation der Elsner-Gesellschaft mit dem Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg (wo die Gesellschaft offiziell ihren Sitz hat) äußerst vielversprechend und ist langfristig auf die Einrichtung einer Gisela Elsner-Dokumentations- und Forschungsstelle angelegt. Der Elsner-Gesellschaft ist es in den letzten Jahren gelungen, mit verschiedenen Veranstaltungsformaten (Lesungen, Vorträgen, szenischen Lesungen, Radio-Features und Tagungen) unterschiedliche Aspekte im Leben und Werk der Autorin zu beleuchten – darunter auch solche, über die bisher kaum etwas bekannt war, wie etwa die Beziehung zu ihrem zweiten Ehemann, dem Maler Hans Platschek, die im September 2015 auf einem Symposium zu den Bezügen zwischen Text und Bild ausgelotet wurde.
Am 2. Mai 2017 würde Gisela Elsner, die sich 1992 im Alter von 55 Jahren das Leben nahm, ihren 80. Geburtstag feiern. Die Internationale Gisela Elsner Gesellschaft möchte dieses Jahr zum Anlass nehmen, mit verschiedenen Veranstaltungen an die bedeutendste Satirikerin der Bundesrepublik Deutschland und ihre Werke zu erinnern. Die genauen Veranstaltungstermine und weitere Informationen sind auf unserer Homepage zu finden.
UZ: Gisela Elsner war Kommunistin. Worin spiegelt sich ihre politische Haltung Ihrer Meinung nach im Werk der Autorin?
Christine Künzel: Für Elsner war der Kommunismus nicht – wie bei vielen anderen Autorinnen und Autoren in den 1970er Jahren – eine vorübergehende Mode, sondern eine Lebenshaltung und tiefe Grundüberzeugung, nachdem sie erst relativ spät, nämlich 1977, in die DKP eingetreten war. Doch war Elsner stets eine kritische und unbequeme Genossin, die mit ihrer Partei und dem Vorstand oft hart ins Gericht ging – nachzulesen in ihren kritischen Schriften.
Elsners politische Haltung äußert sich auf verschiedenen Ebenen in unterschiedlichen Formen in ihren Werken. Das betrifft zum einen die Schreibweise der Satire, das Arbeiten mit Verfremdungseffekten, die eine Identifikation mit den Protagonistinnen und Protagonisten fast unmöglich machen. Bei Elsner soll weniger gefühlt, sondern vielmehr durch die Art der Darstellung bzw. Entstellung erkannt und verstanden werden. Analyse steht im Vordergrund, nicht Einfühlung. Obwohl Elsner keine Theaterautorin war, ähneln ihre Verfahren zuweilen denen Bertolt Brechts. Und dann ist da natürlich die inhaltlich-thematische Ebene. Elsner führt Menschen zumeist in Gewalt-, Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen vor, die diese selbst nur bedingt durchschauen. Und sie ist eine Meisterin der Darstellung sozialer Unterschiede über Prestigesymbole, Verhaltensweisen und Sprache. Was die Qualität und Radikalität ihrer Sprachkritik betrifft, ist Elsner durchaus mit Karl Kraus oder Victor Klemperer zu vergleichen. Und in ihren Roman-Dialogen gibt sich Elsner als Meisterin einer dialektischen Argumentation zu erkennen – so insbesondere in dem Unternehmerroman „Der Punktsieg“ (1977) und in dem Sozialromanfragment „Otto der Großaktionär“ (2008).
Zudem gilt Elsners Sympathie stets den sozial Schwachen und Ausgebeuteten. Sie selbst formulierte es in einem Interview einmal so, dass sie ihre Aufgabe als Autorin darin sehe, „die Missstände der bürgerlichen Gesellschaft zu entlarven“.