Einundzwanzigster Verhandlungstag im Prozess um den Polizeimord an Mouhamed Dramé in Dortmund: Ein Ausbilder zur Wahl der Einsatzmittel

„Kommunikation, solange die Zeit bleibt“

Eine der großen Fragen dieses Prozesses ist: War der unangekündigte Angriff der Polizei auf Mouhamed Lamine Dramé am 8. August 2022 mit Reizgas rechtmäßig – oder nicht? Auf Wunsch der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage hört das Landgericht Dortmund dazu Zeugen an, die in der Aus- und Fortbildung der Polizei tätig sind. Der erste von ihnen, Ingo L., sagte am 2. September aus, dem 21. Prozesstag.

L. ist 39 Jahre alt und arbeitet für das Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten (LAFP) der Polizei Nordrhein-Westfalen. Dort bildet er Einsatztrainer fort, die ihrerseits Kollegen lokaler Dienststellen fortbilden. Sein Spezialgebiet sei „Schießen oder nicht Schießen“, stellt L. sich vor. Herr L. kommt mit zwei Kollegen in den Gerichtssaal. Sie tragen große Taschen mit Anschauungsmaterial.

Ingo L. geht auf alle drei polizeilichen Zwangsmittel ein, die die fünf Angeklagten am 8. August 2022 gegen Mouhamed Dramé anwandten. Am Nachmittag jenen Tages kauerte der Geflüchtete an einer Kirchwand in einer Nische in dem geschlossenen Innenhof einer Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordtstadt. Er hielt sich ein Messer an den Bauch, wohl in suizidaler Absicht. Auf Ansprachen durch seine Betreuer reagierte er nicht, auch nicht auf den Versuch einer zivilen Einsatzkraft der Polizei, mit ihm in Kontakt zu treten. Zwölf Polizisten waren an dem Einsatz beteiligt, der tödlich endete für Mouhamed Dramé.

Die statische Situation eskalierte, nachdem die Polizeibeamtin Jeannine Denise B. den Geflüchteten ohne Warnung mit Reizgas angriff. Auf das Reizgassprühgerät (RSG), wie Pfefferspray im Polizei-Jargon genannt wird, geht L. als erstes ein. Die „Idee“ hinter dem Einsatz eines solchen RSGs sei es, erwarteten Widerstand zu brechen, etwa bei einer Festnahme. Zwei verschiedene Größen seien bei der nordrhein-westfälischen Polizei im Einsatz: Ein kleines mit 45 Milliliter Wirkstoff, das jeder Wachdienstbeamte am Gürtel oder an der Weste trage, und ein großes mit 400 Millilitern Wirkstoff „für die Konfrontation mit größeren Gruppen, wenn Gewalt droht“. Jeannine B. soll ein großes RSG verwendet haben.

Bei dem Wirkstoff handele es sich um ein Stoffgemisch auf Chili-Basis, erzählt L. Es werde ins Gesicht gesprüht und greife Augen, Atemwege und die Haut an. Wie es wirke, sei unterschiedlich. Oft schwellten die Augen zu. „Bei manchen wirkt’s gar nicht“, sagt L. Auf Nachfrage einer Richterin wird L. später genauer: Eine Studie gebe es nicht. Einer Ausarbeitung der Bundespolizei zufolge wirke Pfefferspray in etwa 50 Prozent der Fälle sofort, in 40 Prozent der Fälle trete eine Wirkung stark verzögert ein, und bei etwa 10 Prozent der Opfer wirke es gar nicht.

Mehrere der Angeklagten hatten ausgesagt, schon öfter zu Reizgas gegriffen zu haben, wenn sie mit Suizidenten konfrontiert waren. Das habe immer funktioniert.

Dann erläutert L. das Distanzelektroimpulsgerät (DEIG) – eine Elektroschockpistole, die landläufig meist Taser genannt wird. Die Dortmunder Polizei sei eine der ersten Behörden in Nordrhein-Westfalen, die diese Technik einsetze. Ein DEIG verschießt zwei Elektroden gleichzeitig. Treffen beide, gibt das Gerät fünf Sekunden lang Strom ab. Lägen beide Elektroden mindestens 30 Zentimeter auseinander, komme es zu einer „neuromuskulären Immobilisation“: Der Getroffene werde starr und falle zu Boden.

Mouhamed wurde von zwei Beamten getasert: Markus B. und Pia Katharina B. Einer der beiden muss mit beiden Elektroden getroffen haben, das geht aus der Aussage eines Sachverständigen des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalens am 18. Prozesstag hervor. Dabei kam es zu einem geschlossenen Stromkreislauf mit 109 elektrischen Impulsen in 5 Sekunden. Beide Elektroden waren weniger als 30 Zentimeter voneinander entfernt. Neuromuskulär immobilisiert wurde Mouhamed Dramé nicht. Weil die Elektroden ihn in Unterbauch und Glied trafen, muss Mouhamed dennoch erhebliche Schmerzen gehabt haben.

DEIG seien für den Einsatz in statischen Situationen gedacht, berichtet Ingo L. Es sei schwierig, damit Personen zu treffen, die sich bewegten. Gegen Menschen, die eine Hieb- oder Stichwaffe führten, seien DEIG „grundsätzlich kein geeignetes Einsatzmittel“. Die Wahl des richtigen Einsatzmittels obliege jeweils dem Beamten, sagt L. Diesen Satz wird er noch mehrfach wiederholen.

Der Fortbilder weiß allerdings: „Wenn jemand nicht spricht, berechtigt das grundsätzlich nicht zum Einsatz von Waffen.“ Und: Sei ein Einsatzmittel „nicht geeignet, ist es für uns auch nicht rechtmäßig.“

Schließlich geht L. auf Schusswaffen ein. Die P99 von Walther gehöre zur Standard-Ausstattung nordrhein-westfälischer Polizisten. Der Umgang mit ihr werde während der dreijährigen Ausbildung eingeübt. Danach müssten Polizeibeamte sechs Stunden pro Jahr mit ihr trainieren und jährlich nachweisen, die Prüfungsbedingungen noch zu erfüllen. Letzteres gelte auch für die Maschinenpistole MP 5, mit der Fabian S. schoss. In der Ausbildung an der Waffe gehe es nicht nur um Treffsicherheit, sondern auch um die Frage, wann überhaupt geschossen werde – und wann nicht. „Die Entscheidung, nicht zu schießen, muss genauso Teil des Trainings sein wie das Schießen.“

Der Polizeimord an Mouhamed Dramé hatte Diskussionen über den Umgang der Polizei mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen ausgelöst. Der Vorsitzende Richter Thomas Kelm will von Ingo L. wissen: Was bringe die Polizei ihren Beamten bei hinsichtlich des Einsatz solcher Mittel gegen Suizidgefährdete? Feste Vorgaben gebe es keine, antwortet L. „Wir trainieren nach dem Grundsatz: Die Beamten müssen selbst entscheiden.“ Als „geeignete Verhaltensweise“ benennt er die „deeskalierende Kommunikation“. Was L. empfehle für den Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen? „In der Regel Kommunikation, solange die Zeit bleibt.“ Und: „In der Regel ist es günstig, eine Situation statisch zu halten, Abstand zu halten.“

Sich Zeit zu nehmen, Verstärkung von außerhalb anzufordern, etwa einen Psychiater oder ein Sondereinsatzkommando, die statische Situation statisch zu halten – darüber will keiner der zwölf an dem Einsatz beteiligten Polizisten nachgedacht haben.

Bislang habe gegolten: Wer aggressiv sei, sei für die Polizei in einer psychischen Ausnahmesituation. Seit 2021 gebe es ein neues Konzept für den Umgang mit Menschen in solchen Situationen. Das Konzept unterscheide sieben verschiedene „Zustände“, nicht Erkrankungen, die ohnehin nicht diagnostiziert werden könnten in der Kürze der Zeit. Dieses neue Konzept werde seit 2023 trainiert – wenn eine Dienststelle das für wichtig hält.

Richter Kelm befragt Ingo L. noch zum Umgang mit Menschen, die ein Messer in der Hand halten. Das „Messerkonzept“ der Polizei Nordrhein-Westfalen sehe bei größerer Distanz zu einem Menschen, der sich nicht bewege, vor, Abstand zu halten und die Situation kommunikativ unter Kontrolle zu bringen. Bewege sich der Bewaffnete, sei ein Polizeibeamter zu nah dran, gelte es, sich mittels Schutzreaktionen ein Zeitfenster zu erspielen, um die Dienstwaffe ziehen zu können. Verbindlich sei das Konzept nicht.

Die Strafverteidiger der Angeklagten sprachen schon mehrfach von einer „7-Meter-Regel“, derzufolge Polizisten schießen müssten, wenn sie weniger als sieben Meter von jemanden entfernt sind, der ein Messer führt. Mehrere der Angeklagten und diverse Polizisten im Zeugenstand äußerten sich ähnlich.

Eine solche Regel gebe es nicht, erklärt Ingo L. auf Nachfrage von Lisa Grüter. Die Rechtsanwältin vertritt die Nebenklage.

Anwältin Grüter fragt L. nach der Androhung polizeilicher Zwangsmittel. Die würden grundsätzlich angedroht, antwortet L., es sei denn, die Situation gebiete den Verzicht darauf. Das sei etwa der Fall, wenn eine Person auf einen zu komme oder man das Gegenüber „überraschen“ wolle.

Als zweiter Zeuge an diesem 21. Prozesstag ist Prof. Dr. Sebastian Kurz geladen. Kurz leitet die Rechtsmedizin der Uniklinik Ulm, berät den Taser-Hersteller Axon und hat ein rechtsmedizinisches Gutachten zum Taser-Einsatz erstellt. Er hat eine PowerPoint-Präsentation vorbereitet, was Richter Kelm sichtlich überfordert. Gekicher im Saal. Schließlich holt Kelm einen Beamer. Kurz darauf kann Kurz beginnen. Aus seinen Ausführungen geht hervor, dass Mouhamed nach dem Taser-Treffer unter einer starken Schmerzreaktion gelitten haben muss. Und dass der Schütze die falsche Kartusche gewählt hatte. DEIG sind mit einer für den Fernbereich und einer für den Nahbereich ausgestattet. „Die Nahbereichs-Kartusche wäre besser geeignet gewesen“, sagt Kurz.

Unsere bisherige Berichterstattung über den Prozess haben wir hier zusammengestellt.

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