Der 365-Tage-Weihnachtsmarkt – Eine Weihnachtsgeschichte

Kommerz und Kälte

Was ist, wenn Menschenmassen an Bretterbuden mitten in der Stadt stehen und horrende Summen ausgeben, um ein bisschen Plörre zu trinken, die man auch in der 2-Liter-Flasche für 99 Cent beim Discounter kaufen kann? Stimmt, es weihnachtet sehr. Dank überteuertem Glühweinverschnitt finden Kitsch und Krempel ihre Käufer. Oh wie schön! Wie toll wäre dann erst ein Weihnachtsmarkt, der immer auf hat? Und die frohe Botschaft lautet: Es gibt ihn wirklich! Und wo? Natürlich beim Weihnachtsmann zu Hause! Der Weihnachtsmann lebt – seitdem findige Werbemacher die Idee dazu hatten – in Rovaniemi. In der Hauptstadt Lapplands, der nördlichsten Provinz Finnlands, leben neben dem Weihnachtsmann rund 60 000 Menschen – ein Drittel der Bevölkerung Lapplands, das ungefähr so groß ist wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen.

Vor ein paar Jahren absolvierte ich ein Praktikum in Rovaniemi. An einem Wochenende Ende November sollte es noch mal „angenehm warm“ werden. Minus 8 Grad waren angekündigt. Ich beschloss also, mit dem Fahrrad zum Weihnachtsmanndorf zu radeln, das etwas außerhalb liegen sollte. Kurz nach 11 Uhr, als langsam die Sonne aufging, schwang ich mich auf mein Rad. Die versprochenen minus 8 Grad entpuppten sich schnell als windige minus 15 Grad. Nach gut 1,5 Stunden Gestrampel durch endlose Birkenwälder – ich begann schon an der Existenz des Weihnachtsmanns zu zweifeln – kündigte ein verwittertes Werbeschild, auf dem ein Weihnachtsmann mit überdimensionaler Zigarette im Arm thronte, das Glühwein- und Lebkuchenparadies an. Nach einer weiteren halben Stunde – es dämmerte schon wieder – erreichte ich das Weihnachtsmanndorf schließlich.

Ich hatte etwas Schmuckes erwartet und wurde herb enttäuscht. Hat man sich erst durch eine Wagenburg von Bussen gekämpft, die Touristen in Scharen ankarren, dann erscheint eine Ansammlung von Holzcontainern, die wohl das letzte Mal in den 1980er Jahren erneuert wurden. Das einzige echte Haus ist das Weihnachtsmann-Postamt, in dem man das ganze Jahr Weihnachtsgrüße rund um die Welt versenden kann. Das Postamt teilt sich die Räumlichkeiten mit einem Outlet einer finnischen Porzellanmanufaktur. Das war also das Glühwein- und Lebkuchenparadies? Übrigens ohne Lebkuchen, die sind in Finnland unbekannt. Und ohne Glühwein, weil das Weihnachtsmanndorf seit 1987 trocken ist, wie ein Schild verkündete.

Ich verschickte also ein paar Postkarten und kaufte mir in einem Holzcontainer für viel zu viel Geld etwas (Lau-)Warmes zu essen. Die Container erinnerten mich an die Tankstellen in meiner Kindheit, als Sperrholzvertäfelungen schick waren und noch nicht alle Tankstellen zu irgendeinem Ölkonzern gehörten. Nur waren die Tankstellenhäuschen meiner Kindheit nicht bis zur Decke vollgestopft mit Weihnachtskitsch und -krempel, auch wenn das meiste wahrscheinlich zu dieser Zeit eingekauft worden war.

Ein digitales Thermometer am Postamt zeigte minus 20 Grad. Ich beschloss, das letzte Tageslicht – bevor es gegen 15 Uhr wieder stockdunkel war – für den Heimweg zu nutzen. Davor reihte ich mich aber noch für das absolute Highlight im Weihnachtsmanndorf ein. Der Nördliche Polarkreis verläuft mitten durch das Dorf, gekennzeichnet durch ein steinernes Band am Boden. Über dieses stellte ich mich – leicht gequetscht zwischen halberfrorenen Japanern und hysterisch lachenden US-Amerikanerinnen – und wippte von einem Bein auf das andere. Einmal ist man südlich des Polarkreises und im nächsten Moment nördlich – was für ein Spaß. Danach begab ich mich in die dunkle Nacht, die wohl noch kälter war als minus 20 Grad. Zumindest glaube ich bis heute, ein wenig Mitleid in den leeren Augen des Rentiers erkannt zu haben, das eine Weile neben mir und dem Fahrradweg herlief.

Müsste ich mich zwischen einem hiesigen Weihnachtsmarkt und dem Weihnachtsmanndorf entscheiden, würde ich für die Bretterbuden am Polarkreis votieren. Sie erscheinen einem ehrlicher in ihrer überteuerten Tristesse. Nicht nur, weil man sie sich noch nicht einmal schön saufen darf.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Kommerz und Kälte", UZ vom 20. Dezember 2019



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flugzeug.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit