„Mein Herz klopft vor Freude, vor Ungeduld, vor Erregung. Ganz allein, ich und mein Fiat Millecento, und der ganze Süden vor mir. Das Abenteuer beginnt“, notierte Pier Paolo Pasolini, als er aufbrach, um die gesamte italienische Küste zu umrunden. In den 1950er Jahren hatte Italien eine Industrialisierungs- und mit ihr eine Konsumwelle erfahren und Pasolini wollte 1959 eine Bestandsaufnahme dieses veränderten Italiens und seiner Bewohner unternehmen. Von Ventimiglia in Ligurien über Palermo und Syrakus auf Sizilien wieder hinauf in den Norden bis nach Triest. Dorthin, wo Italien zu Ende ist.
2019 machte sich der deutsche Filmemacher Pepe Danquart auf, Pasolinis Spuren auf dieser Reise zu folgen, zur Hand hat er dabei den wundervollen Band „Die lange Straße aus Sand. Italien zwischen Armut und Dolce Vita“, die reich bebilderte deutsche Ausgabe von Pasolinis Reisetagebuch.
Auch Danquart beginnt seine Reise in Ventimiglia, wie an allen Stationen interviewt er die Bewohner. In Ventimiglia ist es eine Barbesitzerin. Sie berichtet, dass die ersten Migranten hier „wir Süditaliener“ waren – und trauert um die, die es heute bis Italien geschafft haben, aber auf dem Weg nach Frankreich verrecken. In den Bergen oder beim verzweifelten Versuch, die Autobahn zu Fuß zu überqueren.
„Genua raucht, verraucht in einem grandiosen Wirrwarr. Du durchquerst die Stadt, und dann, ungefähr auf halber Höhe des Corso d’Italia in Richtung Riviera di Levante, drehst du dich um, und plötzlich hast du den schönsten Blick von ganz Ligurien hinter dir. Im Hafen liegen in Reihen die Schiffe,das falbe Meer peitscht gegen die Kais, ein Erdrutsch von Häusern steht zu einem einzigen staubigen Klumpen zusammengepfercht …“, schreibt Pasolini über seine Ankunft in der Hafenstadt. Hier treffen wir den 51-jährigen Luca, der, seit er Mitte zwanzig ist, im Hafen arbeitet. Er habe nur einen Mittelschulabschluss, aber Pasolini habe ihn zum Lesen gebracht, berichtet er. Die Privatisierung, auf die nun überall in Italien gesetzt wird, habe „überhaupt keine Verbesserungen“ gebracht. Wer das in Frage stelle, solle sich doch die eingestürzte Brücke ansehen.
Danquarts Reise ähnelt nicht nur der Route nach der von Pasolini. Wie er trifft Danquart auf den Tourismus der Reichen, gern aus Deutschland, und auf die Menschen, die sich den Urlaub im eigenen Land nicht leisten können. In Praia a Mare in Kalabrien gibt es zum Beispiel nur 7.000 Einwohner – in der Hochsaison wächst das Dorf auf 70.000 Bewohnerinnen und Bewohner an. Arbeit bringt das nur für ungefähr 23 Tage im Jahr. Es gibt kein Krankenhaus mehr, keinen Rettungsdienst, keine Fabriken. Es ist kein Lebensort mehr, sondern eine reine Badeanstalt.
In Syrakus berichtet eine Frau, dass alle ihre Kinder, Nichten und Neffen weggegangen sind, ins Ausland oder nach Mailand. Es gibt keine Arbeit, die Handwerkstraditionen sterben aus, weil die Lehrlinge nicht bezahlt werden können und Dinge wie Schuhe zu Wegwerfartikeln verkommen sind. Eine Folge der Krise? „Bei uns war schon immer Krise. Nicht nur heute. Sie war nie weg.“
Wiederkehrendes Thema von Danquarts Reise bleiben die Flüchtlinge. Während die den Niedergang des Tourismus beklagenden Menschen in Orten wie Rimini (das schon bei Pasolinis Reise italienisch-deutsche Schilder hatte) mit einem „Natürlich können sie herkommen, ist ja ein freies Land, aber …“ an die Sache herangehen, ist bei den von Danquart in den ärmeren Regionen interviewten Menschen eines klar: Niemand verlässt freiwillig sein Zuhause. „Sie wollen nur ein besseres Leben.“ Die Migration der Italiener gen Norden hat tiefe Spuren hinterlassen.
Armut, Individual-Massentourismus, Landflucht, Renten, von denen man nicht leben kann, und Migration sind die Themen, die nicht Danquart in den Film einbringt, sondern seine Protagonistinnen und Protagonisten – und das alles vor Kulissen, die teilweise so schön sind, dass einem das Herz wehtut – eben die italienische Küste. Pasolini und Danquart beenden ihre Reisen in Triest: „Über die armseligen Stimmen, über den armseligen Strand wirft das Gewitter einen leichten, weißlichen Schatten. Hier endet Italien, endet der Sommer.“
So endet auch der bildstarke Dokumentarfilm und so endet Pasolinis Reisetagebuch. Für den Kommunisten war dies der Beginn einer Arbeitsform: Mit dem Fiat Millecento in ausgedehnten Reisen durch das Land fahren, auf der Suche nach dem „wahren Leben“. Er interviewte Menschen an ihren Arbeitsplätzen und in ihrer Freizeit, zu Themen wie Liebe, Sexualität, Arbeitslosigkeit und Konsum, drehte mit der „Lotta Continua“ einen Dokfilm über den faschistischen Bombenanschlag auf die Piazza Fontane und interviewte die Arbeiter in den Steinbrüchen von Carrara. Vor allem aber war Pier Paolo Pasolini ein begnadeter Dichter und Filmemacher. Am 2. November 1975 wurde er am Strand von Ostia ermordet.
Wer etwas über den inneren Zustand Italiens erfahren möchte, schaue sich „Vor mir der Süden“ an. Wer es nach fast zwei Corona-Jahren vermisst, auch. Und danach lest die Bücher Pasolinis. Es lohnt sich.
Melina Deymann