Seine seit Jahrzehnten mit absoluter Regelmäßigkeit durchgeführten Wahlen haben Kolumbien den Ruf der „ältesten Demokratie Lateinamerikas“ eingebracht. In der Tat finden jeweils vierjährlich im März die Parlaments- und im Mai darauf die Präsidentschaftswahlen statt. Eine Aussage über deren demokratischen Charakter des Landes ist das indes nicht.
Aus den Atlantik- und Pazifikregionen werden wie üblich massive Stimmenkäufe zugunsten der Rechten und Einschüchterungen von Linken gemeldet, die wie in La Guajira dazu führten, dass Kandidaturen zurückgezogen wurden und dort nur der Sohn eines Paramilitärführers auf dem Wahlzettel stand. Und 71 Morde seit Jahresbeginn, darunter 36 an oppositionellen Aktivisten, würden kein Land dem Rest der Welt als Demokratie erscheinen lassen (abgesehen von der Ukraine). Aber dennoch – der 13. März brachte der kolumbianischen Linken mit dem Bündnis „Pacto Histórico“ (PH) einen nie dagewesenen Sieg, der sie zur größten Minderheit macht: 16 von 108 Sitze im Senat sowie 25 von 188 Sitzen im Parlament. Dabei können unter anderem die jeweils fünf im Rahmen von Sondergesetzen garantierten Sitze für die demobilisierte Guerilla FARC als heutige Partei „Comunes“ den PH-Sitzen noch hinzugezählt werden.
Aber der Sieg mit mehr als fünf Millionen Stimmen barg auch Enttäuschungen, wenn nicht Ungereimtheiten: Eigentlich hatte der „Historische Pakt“, dem auch die Kolumbianische Kommunistische Partei und die Patriotische Union angehören, intern mit 22 eigenen Sitzen im Senat gerechnet. Inwiefern das damit zu tun hat, was Kennern Kolumbiens den eingangs genannten Ruf als absurd erscheinen lässt, lässt sich daran erahnen, dass bei den Parlamentswahlen jede vierte Urne angeblich keine einzige Stimme für den PH enthalten habe – eine statistische Wahrscheinlichkeit nahe dem Unmöglichen. Von Seiten des „Pacto Histórico“ werden nun Nachzählungen gefordert und die heutigen Verhältnisse in Kolumbien machen zwar plumpe Fälschungen wie in der wirtschaftlich mächtigen, traditionell rechts dominierten Provinz Antioquia, wo paramilitärische Strukturen das Sagen haben, immer noch möglich – aber eine andere Sache ist es, diese im Nachhinein wahlgerichtlich bestätigt zu bekommen. Mindestens weitere zwei Sitze erwartet der PH durch seinen Einspruch zugesprochen zu bekommen.
Die gleichzeitig stattgefundenen Vorwahlen für die Kandidaturen bei den Präsidentschaftswahlen am 29. Mai taten ihr Übriges, um der Linken einen größeren Geländegewinn zu vermitteln als er womöglich am Ende sein wird. Gustavo Petro erreichte mit fast 4,5 Millionen Stimmen zwar mit Abstand die meisten Menschen – aber bei Vorwahlen tritt man nicht gegeneinander an, sondern innerhalb des eigenen Wählerspektrums. Rechte Kandidaten schafften weit weniger Stimmen, hatten aber Gegenkandidaturen im eigenen Lager oder mobilisierten uninspiriert; Gewinner wurde hier Federico Gutiérrez von „Equipo por Colombia“, der dem Lager des rechtsextremen Ex-Präsidenten Álvaro Uribe zuzurechnen ist. Eine Enttäuschung war freilich die Mobilisierung innerhalb der Parteien der politischen Mitte, um die sich fortan sowohl Petro als auch Gutiérrez bemühen werden.
Politisch unzufrieden muss die kolumbianische Linke aber die Wahlbeteiligung mit niedrigen 39 Prozent machen, nachdem es – nur zeitweise von der Corona-Pandemie unterbrochen – in den letzten Jahren massive Volkserhebungen gab, die von der rechten Staatsgewalt selbst mit brutalstem Vorgehen mit Dutzenden Toten und hunderten Verschwundenen nicht gänzlich unterdrückt werden konnten. Und deshalb ist es bei Licht betrachtet nicht so sehr die eigene Stärke, sondern vielmehr die historische Schwäche der Rechten unter einem schwachen Präsidenten Iván Duque von der Uribe-Partei „Centro Democrático“, die dieses Ergebnis möglich gemacht hat. Dennoch reicht das Konservativ/Rechts-Ergebnis, aufgeteilt unter sechs Parteien, zu zusammen 70 Sitzen gegenüber den 25 des Pacto Histórico. Unklar ist, ob dieses Verhältnis mehr Aufschluss über die Präsidentschaftswahlergebnisse gibt als die Vorwahlmobilisierungen am 13. März. Die Rechte wird in den kommenden Wochen angesichts der drohenden Niederlage weder legal noch illegal untätig bleiben.