Wie die Regierung die Spaltung in Ost und West dokumentiert und ihre Ursachen verschleiert

Kolonisierung in Karten

Von Herbert Münchow

Möglichst gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Teilen Deutschlands“ zu schaffen – das hat die Bundesregierung bei ihrem Amtsantritt versprochen. Noch bis 1994 gab das Grundgesetz die „Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ als Ziel vor, seitdem soll der Bund zumindest für Gleichwertigkeit sorgen. Am 10. Juli hat der „Heimatminister“ Horst Seehofer präsentiert, was unter seiner Federführung eine Kommission der Bundesregierung herausgefunden hat: den Deutschlandatlas. 56 Karten zeigen, wie sich die Regionen bei Infrastruktur, Schulabschlüssen und Erwerbstätigkeit unterscheiden. Die Statistiken, die die Regierung aufbereitet hat, zeigen, wie weit die Bundesrepublik von „gleichwertigen Lebensverhältnissen“ tatsächlich entfernt ist. Gerade bei den entscheidenden Kennzahlen zeichnen sich die Umrisse der nicht mehr existierenden DDR ab – der Deutschlandatlas zeigt die Kolonisierung des Ostens in Karten.

Die Umrisse der DDR sind deutlich sichtbar: Eine der 56 Karten aus dem Deutschlandatlas der Bundesregierung.

Die Umrisse der DDR sind deutlich sichtbar: Eine der 56 Karten aus dem Deutschlandatlas der Bundesregierung.

Flächendeckend unten

Tief und verfestigt ist die Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschland. Die Vereinigungspolitik, mit der kapitalistischen Restauration als Kern, hat Ostdeutschland zu einem Hinterland der wirtschaftsstarken BRD gemacht, es an den finanziellen Tropf des „Mutterlandes“ gehängt. Das Monopol der Westkonzerne wurde verstärkt. Das zeigt auch die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung „Ungleiches Deutschland“, die Ende April herauskam.

In Deutschland ist das Vermögen der privaten Wirtschaft stark konzentriert. 10 Prozent der reichsten Haushalte besitzen 60 Prozent des gesamten Nettovermögens und 40 Prozent dieses Reichtums sind in den Händen privater Unternehmer. Die Armutsquote markiert ein Rekordhoch seit Oktober 1990. Mindestens 13,7 Millionen Menschen leben heute unterhalb der Armutsgrenze. Im Deutschlandatlas sagt uns die Karte zum „verfügbaren Einkommen privater Haushalte“: Die Länder in der ehemaligen DDR (ohne Berlin) befinden sich flächendeckend im untersten Spektrum: Jährliches Einkommen unter 20000 Euro – bedeutet mit ganz wenigen Ausnahmen überdurchschnittliche Armut. In Westdeutschland betrifft das nur eine schmale nordwestliche Grenzregion um Leer und Bremerhaven, einen Teil des Saarlandes und Teile des Ruhrgebiets. Bayern, Baden-Württemberg, das Rhein-Main-Gebiet und Hamburg erzielen durchschnittlich deutlich höhere Einkommen. Die Karten zeigen die Durchschnittswerte der 401 Landkreise und kreisfreien Städte, über die Ungleichheit innerhalb dieser Gebiete sagen sie nichts. In der einverleibten DDR liegt das Durchschnittseinkommen nur im Landkreis Potsdam zwischen 21000 und 22000 Euro.

Zerrissene Republik

Auch die Karte mit der „Sozialen Mindestsicherung“ enthüllt hohe Armutszahlen. Der Durchschnittswert der „Mindestsicherung“ in den ostdeutschen Ländern (11,4 Prozent) liegt deutlich höher als in Westdeutschland (8,6 Prozent). Die Altersarmut ist in Ostdeutschland in zehn Jahren von 11 auf 15 Prozent angestiegen. Das höchste Armutsrisiko tragen überall in der BRD Alleinerziehende und ihre Kinder. Keineswegs überraschend niedrige Werte zeigen die ostdeutschen Länder beim BIP je Erwerbstätigen. Negativ sind die durchschnittlichen Wachstumsraten und die Zunahme des Arbeitsvolumens. Nicht anders verhält es sich mit der Bevölkerungsentwicklung. Seit 1990 nahm die Bevölkerung in Ostdeutschland um 2,2 Millionen ab, bei den unter 60-Jährigen sogar um 3,5 Millionen. Eine sich offenbar beschleunigende Tendenz.

Egal, welche Karte man von den 56 nimmt, immer zeigt sich das Bild einer „zerrissenen Republik“ (Christoph Butterwege) – nicht nur in Ost und West, sondern in sich. Insbesondere das Ruhrgebiet und eben weite Teile Ostdeutschlands gehören zu den abgehängten Regionen, die sich in ihrem Abgehängtsein bei einigen Indikatoren sogar annähern. In den Städten gibt es Luxusquartiere und Elendsquartiere. Der Reichtum des Landes spiegelt sich völlig ungleichmäßig in den Bundesländern, Kommunen und Städten wieder.

Die neoliberale Politik mit der „Agenda 2010“, der Schuldenbremse, dem Steuerdumping, den Geschenken für das Großkapital zeigt ihre Wirkung. Das ernüchternde Ergebnis ist politisch gewollt, auf Fehler lässt es sich nicht reduzieren. Ein Wille zur Veränderung ist nicht in Sicht. Zusätzliche Mittel sollen nicht zur Verfügung gestellt werden. Die Regierenden sind Söhne und Töchter ihrer Klasse. Deshalb soll es weiter heißen: Die Starken stärken, die Schwachen ruhig abgehängt sein lassen. Für Ostdeutschland soll die Förderung eingestellt werden – mit zu erwartenden dramatischen Folgen.

Strukturproblem

Viel ist jetzt wieder – und das zu Recht – von Strukturen und Strukturproblemen die Rede, aber die kapitalistische Grundstruktur wird nicht angetastet. Der Staat hat Handlungsbedarf, den will und muss man zum Tragen bringen, aber deshalb bedeutet mehr Staat nicht einfach weniger Kapitalismus, schon gar nicht, wenn die Militärausgaben und die Ausgaben für die innere Sicherheit drastisch erhöht werden sollen. Um die drohende Katastrophe zu bekämpfen, müssen schon die Reichen ob ihres obszönen Reichtums zur Kasse gebeten werden. Der Staat muss ihnen gehörig in die Tasche greifen und auf die Finger klopfen. Ob er das macht? Kein Wunder, dass sich diese sozial explosive Lage auch in Meinungsumfragen widerspiegelt. Angeblich gehe im Westen das Gefühl, abgehängt zu sein, zurück, während es im Osten wächst, schätzte die FAZ im Juli ein. Zumindest für Ostdeutschland dürfte das Ergebnis belastbar sein – die Zahl möglicher AfD-Wähler spricht dafür. Nicht zu übersehen ist auch die tiefe Kluft zwischen der Erinnerungspolitik der Regierenden und dem politischen Alltagsdenken der Menschen hinsichtlich positiver Erinnerungen an die DDR in Ostdeutschland.

Kein Ossi-Wessi-Klischee

Gleichwertig sind die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik nur insofern, als sie sich überall nach der Logik des Profits richten – und das heißt auch, dass sich die Regionen ungleichmäßig entwickeln und dass die kapitalistische Akkumulation zur Verelendung führt. Der vermehrte Reichtum ist das Resultat vermehrter Armut. Die 56 Karten des Heimatministers liefern dazu nur einige Hinweise mehr. Sie zeigen, welche Form der Ost-West-Gegensatz in unserem Land nach der Konterrevolution angenommen hat: Wo früher Gesellschaftssysteme gegeneinander standen, drückt sich heute die Klassenspaltung auch in den regionalen Unterschieden aus. Wenn Klischees von „Ossis“ und „Wessis“ gepflegt werden oder regionale Identitäten konstruiert werden, lenkt das leicht vom Wesentlichen ab: Die Ungleichheiten in unserem Land entstehen aus dem Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital.


Alte Legende, neue Legitimation

Was die Regierungsberichte über „Wiedervereinigung“ und „Angleichung“ verschleiern

Schon 1970 hatte die Regierung die BRD vermessen lassen. Dietrich Genscher stellte seinen Deutschlandatlas 1970 vor – also vor dem Anschluss der DDR an die BRD, vor der „Schluckvereinigung“, bevor die Währungsunion am 1. Juli 1990 den „Point of No Return“ bildete, der Unternehmen und Privatvermögen im Westen von der Konterrevolution profitieren ließ.

Kläglich hatte sich die DDR am 3. Oktober 1990 verabschiedet, nicht weil sie marode und pleite war – sie war es nicht. Die Legenden der Regierung über die „friedliche Revolution“ von 1989 sind zynisch und heuchlerisch – vom Ende der DDR oder des Sozialismus war im Oktober noch keine Rede, erst am 13. November tauchte die Losung „Deutschland, einig Vaterland!“ auf. Die Giftküche brodelt weiter.

Immer wieder wird Gerichtstag über die DDR gehalten – schließlich sei sie ein „Unrechtsstaat“ und eine „SED-Diktatur“gewesen. Auf keinen Fall darf die Machtfrage, die Frage nach der Diktatur des Kapitals, gestellt werden. Vor den Lohnabhängigen und sozial Abgehängten in Ost- und Westdeutschland, vor großen Teilen der Bevölkerung sollen die tatsächliche Lage und die Schwere des Verlustes der DDR als sozialistischer Friedens- und Sozialstaat, auf den die Kriegsführung der Bundesregierung in aller Welt und soziale Diskriminierung folgten, verborgen werden. Auch dazu dienen die Armuts- und Reichtumsberichte, die Berichte zum Stand der deutschen Einheit und ähnliche Dokumente, die neben unvermeidlich Wahrem auch grundlegend Unwahres enthalten – wie es der Architektur einer Legende entspricht.

Zu den großen Lügen gehört, dass der „Aufbau Ost eine Erfolgsgeschichte“ sei und die „Angleichung der Lebensverhältnisse insgesamt weit fortgeschritten“ ist. Ein in die Jahre gekommener statistischer Trick solcher Berichte besteht darin, bei der Bewertung ökonomischer Entwicklungen die wirtschaftliche Crash-Situation von 1991 als Bezugspunkt zu setzen. Eine realistische Schätzung müsste 1989 als Ausgangspunkt nehmen: Da gab es die DDR noch, mit ihren  12354 VEB, darunter 145 Großbetriebe mit über 5 000 Beschäftigten, und ihren 465 Staatsgütern. So kann man sich, trotz mancher Eingeständnisse, selbst loben, denn 1991 war die industrielle Wertschöpfung „im Beitrittsgebiet“ gegenüber 1989 auf unter 30 Prozent abgesunken. Erst nach 24 Jahren wurde der Produktionsumfang des Verarbeitenden Gewerbes der DDR von 1989 erreicht.

Genscher stellte seinen Deutschlandatlas auch vor dem „Raubzug Ost“ vor, dessen wichtigster Baustein zur Privatisierung eines ganzen Landes die im Parlamentsauftrag handelnde zweite Treuhand vom 17. Juni 1990 gewesen ist – sie hat Werte von fast 900 Milliarden Mark zerstört, ganz abgesehen von dem menschlichen Leid, das sie durch die Vernichtung von Millionen Arbeitsplätzen zu verantworten hat.

Schon im März 1952 war in Bonn der „Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands“ gebildet worden. Er sollte alle „Überleitungspläne im Falle einer Inbesitznahme der Sowjetzone“ ausarbeiten. 1975 wurde diese Institution aufgelöst. Ihre Überlegungen blieben 1990 allerdings nicht unberücksichtigt und flossen ein in die Kolonisierung eines voll industrialisierten Landes. Mit dem Grundlagenvertrag zwischen der DDR und der BRD, der am 21. Dezember 1973 in Kraft trat, wurde das nationale Liquidierungsziel seitens des Westens nicht aufgegeben. „Wandel durch Annäherung“ hieß die neue Formel.

Das Ziel Kohls und Schäubles bei ihrer Vereinigungspolitik war, die DDR zu beseitigen. Das Ergebnis: Ihre Gangart war noch zupackender, als sie selbst die Bonner Wiedervereinigungsforscher in der letzten Phase ihres Wirkens für die Restauration des Kapitalismus empfohlen hatten.

hm

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"Kolonisierung in Karten", UZ vom 6. September 2019



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