Kolonie Kurdistan

Manfred Idler über die Ideologie des Neokolonialismus

Die Grenzen des syrischen Staates sind das willkürlich gezogene Ergebnis von Verhandlungen zwischen den alten Kolonialstaaten Großbritannien und Frankreich. Schon seit der Antike war Syrien am Schnittpunkt dreier Erdteile ein Durchgangsland, Angehörige vieler Völker ließen sich hier nieder. Auch ein Fluchtpunkt wurde es in den regionalen Auseinandersetzungen des letzten Jahrhunderts, etwa für Armenier, Palästinenser und nach 2003 für aus dem Irak Geflohene. Die größten Ethnien blieben aber immer die dominierenden Araber und die Kurden.

Über die Regierungen Syriens seit der Erlangung der Souveränität 1946 lässt sich manch Schlechtes und wenig Gutes sagen. Das Schlechte oft, weil sie um geringen Vorteils willen sich gerne mal den imperialistischen Staaten als Handlanger andienten. Zwei große zivilisatorische Leistungen aber haben sie erbracht: Die Konstituierung eines syrischen Nationalbewusstseins, das über der Zuordnung zu einer Ethnie steht, und die Definition des Staates als eines säkularen, der über den Religionen steht.

Es sind nun drei säkulare Staaten, die der Imperialismus seit 2003 unter dem Banner der „Demokratie“ in Vorhöllen verwandelt hat: der Irak, Libyen und dann Syrien. Demokratie heißt in diesem Sinne: Alle Länder, in denen nicht zwei Fraktionen des Kapitals um die Hegemonie ringen, sind undemokratisch und verletzen das Menschenrecht auf Ausbeutung. Höhere Formen der politischen Beteiligung der Völker als die, bei denen man seine Stimme „abgibt“, darf es nicht geben – „Demokratie“ ist die Variante des unzeitgemäß gewordenen „wahren Glaubens“, der im 19. Jahrhundert der Ausrottung ganzer Völker und der kolonialen Ausbeutung ganzer Kontinente die Weihe verlieh.

Und wie damals Deutschland erst spät – aber nicht weniger mörderisch als die „alten“ Kolonialstaaten, nur hießen deutsche Kolonien gerne „Schutzgebiete“ – in das Rattenrennen um die Aufteilung der Welt einstieg, so auch jetzt wieder. Die USA ziehen ihre Krallen aus dem geschundenen Syrien heraus und Ankara verbeißt sich in die frei gewordenen Kurdengebiete. Dürfen die das? Es gibt doch Berufenere, zumal dort Öl liegt? Der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter wirbt für eine „humanitäre Schutzzone“ aus Deutsch-Europa, eine Besetzung mit 30 000 bis 40 000 Soldaten – logisch, die Bundeswehr muss dabei sein. Die legitime Regierung Syriens wird nicht gefragt. So geht Kolonialismus. Heute.

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"Kolonie Kurdistan", UZ vom 25. Oktober 2019



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