Überrascht könne keiner sein, schreibt der französische Schriftsteller Joseph Andras in „L’Humanité“ vom 16. Mai. Die Befürworter der Unabhängigkeit Neukaledoniens hätten seit Monaten Alarm geschlagen.
Am 14. Mai stimmte die französische Nationalversammlung mehrheitlich dafür, das Wahlrecht in Frankreichs Kolonie Neukaledonien zu ändern. Bisher darf an den Provinzwahlen der Inselgruppe im Südpazifik nur teilnehmen, wer schon 1998 im Wahlregister stand oder Eltern hat, auf die das zutrifft. Tritt die Reform in Kraft, darf abstimmen, wer dort geboren wurde oder seit wenigstens zehn Jahren dort lebt. Damit steigt die Zahl der Wahlberechtigten – und der Einfluss der autochthonen Bevölkerung, der Kanaken, sinkt. „Diese Entscheidung wird unsere Möglichkeit stark einschränken, Neukaledonien zu verwalten“, kritisierte Louis Mapou. Er ist Mitglied der Kanakischen und Sozialistischen Front der Nationalen Befreiung (FNLKS) und Präsident der Regierung Neukaledoniens.
Dort entlud sich der Ärger vieler Einwohner in Gewalt. Milizen errichteten Barrikaden und schnitten den Flughafen von Neukaledoniens Hauptstadt Nouméa ab. Häuser und Autos brannten, es gab Schießereien und Plünderungen. Mindestens sechs Menschen starben. Etwa 230 Menschen wurden von der Polizei festgenommen.
Am 16. Mai verhängte die Regierung in Paris den Ausnahmezustand. Die gesetzliche Grundlage dafür stammt vom 3. April 1955 – eine Abwehrmaßnahme gegen den algerischen Befreiungskampf. 2.700 Soldaten und Polizisten mobilisierte die Kolonialregierung seit dem Inkrafttreten des Ausnahmezustands. Die Bewegungsfreiheit der Bürger wurde eingeschränkt. Gegen mehrere bekannte kanakische Politiker, die für die Unabhängigkeit ihrer Heimat kämpfen, verhängte Innenminister Gérald Darmanin Hausarrest. Die Verwendung des sozialen Netzwerks TikTok ist jetzt verboten.
1853 kolonisierte Frankreich Neukaledonien. Seitdem kämpfen die Kanaken für ihre Unabhängigkeit. Sie machen heute noch knapp über 40 Prozent der 270.000 Einwohner aus, Tendenz sinkend. Das ist das Resultat politischer Entscheidungen. Frankreich nutzte Neukaledonien anfangs als Strafkolonie, auch für aufsässige Algerier. Später setzte Paris auf Siedler aus Asien und dem pazifischen Raum – und vor allem auf Franzosen aus dem Mutterland.
In den 1980er Jahren griff die Unabhängigkeitsbewegung zu Waffen. Etwa 90 Menschen verloren ihr Leben. „Frankreich will seine strategische Rolle und Präsenz in diesem Teil der Welt aufrechterhalten“, erklärte der damalige Präsident François Mitterrand Mitte der 1980er Jahre. Kurz darauf setzten die Vereinten Nationen Neukaledonien auf ihre Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung. Frankreich ist damit verpflichtet, die Selbstregierung der Kanaken zu entwickeln und ihre politischen Bestrebungen „gebührend zu berücksichtigen“ und zu unterstützen.
Zarte Schritte in diese Richtung unternahm Frankreich mit den Abkommen von Matignon 1988 und Nouméa 1998. 2018, 2020 und 2021 stimmten Neukaledonier über ihre Unabhängigkeit ab. Im ersten dieser Referenden sprachen sich 43 Prozent für die Unabhängigkeit aus, im zweiten 47 Prozent. Das dritte fand während der Corona-Pandemie statt. Die Befürworter der Unabhängigkeit sahen sich nicht handlungsfähig, verlangten die Verschiebung des Referendums und boykottierten es, als die französische Regierung sich weigerte. Bei halbierter Beteiligung stimmten 97 Prozent gegen die Unabhängigkeit.
Seitdem war die kanakische Unabhängigkeitsbewegung eingeschlafen. Erst der einseitige Vorstoß Emmanuel Macrons mit der Wahlrechtsreform fachte das Feuer wieder an. Wie die FNLKS kritisiert auch die Französische Kommunistische Partei (PCF), Macron bezwecke damit, die Entkolonialisierung Neukaledoniens zu behindern respektive zu verhindern.
Die Kolonie im Pazifik ist geostrategisch und ökonomisch höchst bedeutend für Frankreich. Neukaledonien ist der viertgrößte Nickelproduzent der Welt. Der Rohstoff ist unverzichtbar für die Energiewende. Auch militärisch kann Frankreich nicht auf seine Kolonie verzichten, will es Seestreitmacht im Pazifik bleiben.
„Die republikanische Ordnung“, sagte Louis Le Franc, französischer Hochkommissar in Neukaledonien, „wird wiederhergestellt, koste es, was es wolle.“ Überrascht kann keiner sein.
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