Wer als einigermaßen nüchterner Zeitgenosse die Ereignisse um die sogenannte Ukraine-Krise verfolgt hat, kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass der Marsch ins postfaktische Zeitalter deutlich an Geschwindigkeit zugelegt hat, ja dass die politischen und publizistischen Lautsprecher des „Wertewestens“ es in dieser Disziplin zu einer beträchtlichen Meisterschaft gebracht haben. Ein Top-event der Spitzenakteure in dieser Kunst ist die Münchener „Sicherheitskonferenz“, die am vergangenen Wochenende wieder als Lifeveranstaltung stattfand.
Es versteht sich von selbst, dass die zentralen „westlichen“ Kampagnen – wie aktuell die Fabrikation einer Krise in Osteuropa – auch auf dem Großauftrieb der imperialen Strategen und Kriegstreiber eine zentrale Rolle spielen. Von Kamala Harris bis Wladimir Selenski, von Ursula von der Leyen bis Antony Blinken und Boris Johnson war in München wieder einmal alles versammelt, was dem abgedroschenen „westlichen“ Narrativ von der russischen Aggression gegen die friedliche demokratische Ukraine neues Leben einzuhauchen imstande war. Die von der mittlerweile üblichen Polizeigewalt begleiteten Proteste der zahlreichen Anti-SiKo-Demonstranten hatten schon gute Gründe. Die russische Seite war dem diesjährigen Spitzenevent der Kriegs-PR ferngeblieben. Es gibt Wichtigeres zu tun für Sergei Lawrow und Wladimir Putin. Den Beleg erbrachte der chinesische Außenminister Wang Yi. Er war zwar gekommen, aber kaum jemand interessierte sich für das, was er zu sagen hatte. Man wollte Kriegspropaganda und keine Beistandserklärungen für Russland.
Die deutsche Außenministerin stellte ungewollt unter Beweis, wie sehr der Maidan-Putsch und die antirussische Positionierung der Ukraine ein Projekt des „Wertewestens“ sind. Die rechtsradikalen Putschisten hängen in hohem Maße am Tropf der US- und EU-Kassen. Man habe die Poroschenko/Selenski-Ukraine seit 2014 mit 48 Milliarden US-Dollar finanziert, gab sich Annalena Baerbock stolz. Auch in Zukunft werde man die Taschen der ukrainischen Machthaber füllen, versicherte sie den immer fordernder auftretenden Ukrainern. Baerbock stellte, mit der Elite der Atlantiker im Rücken, wiederum auch Nord Stream 2 zur Disposition – was Olaf Scholz sowohl in Washington und Moskau als auch in München sorgfältig vermieden hatte. Vor allem Emmanuel Macron hatte sich wiederholt für eine Entspannung der Situation und einen Waffenstillstand im Donbass eingesetzt und war damit für die atlantischen Russland-Krieger schon fast ein Verräter.
Selenski war – sehr zum Ärger Washingtons – selbst nach München gekommen. Es sieht nicht nach drohendem Krieg aus, wenn der Regierungschef lustig ins Ausland reist. Dafür lieferte er dort eine der skurrilsten Reden der Konferenz. Sie war geprägt vom Frust über die seiner Meinung nach mangelnde Kriegsbereitschaft des Wertewestens. Selenski und Co. ist klargeworden, dass sie im Kriegsfall nicht mit den Divisionen der US-Army oder den europäischen Armeen rechnen können. Und das jetzt, wo doch die Ukraine nach ihrer Ansicht nicht nur Europa, sondern die ganze Welt gegen die russische Aggression verteidigt. Da mussten natürlich auch wieder Gräuelstorys, die Weltkriege, München 1938 und die Appeasement-Politik herhalten. 5.000 Helme seien eben nicht genug.
Je miserabler die Lage, umso aggressiver die Rhetorik. Natürlich störte sich niemand von den professionellen Kriegstrommlern an dem blamablen Umstand, dass der großspurig verkündete „Invasion-Day“ völlig ohne Invasion, jedenfalls nicht von russischer Seite, verstrichen ist. Vor allem die angloamerikanischen Wortführer und ihre europäischen Wasserträger verkündeten, ungerührt, dass der russische Einmarsch unmittelbar bevorstünde und es nur noch eines günstigen Anlasses bedürfe, damit „Putin“ (mit seinen asiatischen Horden, ist man geneigt zu ergänzen) losschlagen könne. Es ist wenig sinnvoll, auf die Kriegsrhetorik im Einzelnen einzugehen – sie ist ja aus der Permanentberieselung der Kartellmedien nur allzu bekannt. Unnötig auch, in dieser Zeitung zu betonen, dass das ganze Putin-Bash-ing eine große Lüge ist. Und zwar seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten. Warum in aller Welt sollte Russland die Ukraine überfallen? Um die 48 Milliarden Dollar, die offensichtlich notwendig sind, die Ukraine vor der Pleite zu retten, selbst zu zahlen? Oder weil die Russen nicht genug Land haben?
Die Kriegshysterie soll die tiefe Verunsicherung des Wertewestens verdecken. Das Afghanistan-Desaster hängt wie ein Damoklesschwert über den US-Vasallen. Und nun auch das Ukraine-Drama. Was sind die Beistandsgarantien, was sind die Versprechen von Freihandel, Wohlstand, Freedom and Democracy heute noch wert, wo sich die „leuchtende Stadt auf dem Hügel“ (Reagan), die „unverzichtbare Nation“ (Albright) längst in ein dystopisches Armenhaus mit zerfallender Infrastruktur und brennenden Städten verwandelt hat, die US-Kriegsmaschine einen Krieg nach dem anderen verliert und außer der Drohgebärde kaum noch etwas zu bieten hat? Im Nahen und Mittleren Osten ist der Afghanistan-Krieg sorgfältig beobachtet worden. Gleiches gilt auch für die Ukraine. Hier wird längst über Alternativen nachgedacht. Auch für die Europäer, wollen sie dem US-Imperium nicht in den Abgrund folgen, ergibt sich die Notwendigkeit der Umorientierung.
Die SiKo hat sich in ihren Dokumenten (Munich Security Report 2022) halbherzig diesem Thema genähert. Der Report trägt den Titel „Turning the Tide“, etwa „das Blatt wenden“, und konstatiert eine „kollektive Hilflosigkeit“ angesichts der „immer neuen Krisen“. Der Report sagt aber wenig dazu, wie denn genau diese „kollektive Hilflosigkeit“ des Westens tatsächlich überwunden werden kann. Eine konzeptionelle Neuorientierung ist nicht in Sicht. Es wird vorerst beim Kriegsgeschrei bleiben.