Niemand ahnte, dass aus den Warnstreiks ab dem 14. Juni 2018 die längsten Streiks in deutschen Krankenhäusern werden würden. Vor ungefähr einem Jahr hatten die Vorstände der Unikliniken Düsseldorf und Essen gezeigt, dass sie – genauso wie die Landesregierung – den Unmut der Beschäftigten nicht ernst nahmen. Bereits im Herbst 2017 hatte die Belegschaft der Uniklinik Düsseldorf an einzelnen Tagen gestreikt. Obwohl diese Streiktage bereits breite Solidarität aus der Bevölkerung erhielten, rechneten die Vorstände nicht damit, dass die Belegschaften zu einem größeren Streik in der Lage wären.
Zwölf Wochen kämpften die Streikenden in beiden Häusern für einen Tarifvertrag Entlastung. Ende August mussten die Vorstände beider Kliniken einer schuldrechtlichen Vereinbarung zustimmen, die eine verbindliche Entlastung vorsah. Die Streikenden haben den bis dahin größten Personalaufbau an Kliniken durchgesetzt, die Vereinbarung sieht „schichtscharfe“ Festlegungen von Besetzungen in jedem Pflegebereich vor, außerdem verbindliche Regelungen bei Unterschreitung dieser Soll-Besetzungen und deutliche Verbesserungen bei der Ausbildungsqualität.
An anderen Kliniken – zum Beispiel im Saarland und in Bayern – waren nur einzelne Warnstreiks beziehungsweise nur die Androhung dieser nötig, um relativ schnell ähnliche Abschlüsse zu erreichen. Der Streik in Düsseldorf und Essen hatte in Klinikvorständen und Landesministerien Eindruck gemacht. Drei Gründe waren es, die diesen Belegschaften die Kraft gegeben haben, sich gegen die Lügen und die Spaltung der Vorstände und Jahrzehnte asozialer Gesundheitspolitik durchzusetzen.
Streik der Streikenden
Der erste Faktor, aus dem die Streikenden ihre Kraft gezogen haben, war, dass sie selbst die zentralen Akteure der Tarifauseinandersetzung waren. Sie haben von den großen Linien bis in kleinste Details die Forderungen diskutiert und beschlossen. Sie haben den Streik und die einzelnen Aktionen geplant. Sie haben den jeweiligen Stand der Verhandlungen bewertet, und sie haben entschieden, ob und mit welchem Auftrag ihre Delegierten zu Sondierungs- oder Schlichtungsverhandlungen mit den Vorständen fahren sollten.
Die gewählten ver.di-Vertrauensleute, die Mitglieder der Verhandlungskommission und die Streikleitung informierten die Streikenden durchgehend, zeitnah und ausführlich im Streikzelt über alle neuen Entwicklungen. Damit wurde es für die Streikenden möglich, selbst zu entscheiden, wie der Warnstreik weitergeht, wann der unbefristete Streik starten sollte und mit welchen Aktionen sie ihren Streik voranbringen wollten. Im Streikzelt diskutierten sie, wie sie mit Angriffen der Klinikvorstände und mit Repressionen gegen einzelne Streikende umgehen sollten und entwickelten Gegenstrategien. Neben dem relativ kleinen Kreis der Streikleitung wählten die Streikenden an der Uniklinik Essen ein Streikkomitee, an dem sich die aktivsten Kollegen mit viel Zeit und Energie beteiligten. Dieses Streikkomitee bereitete die Streikversammlungen vor, kreierte Ideen zum weiteren Vorgehen und erarbeitete inhaltliche Positionen. Und immer war es die Streikversammlung, auf der die Vorschläge des Streikkomitees gemeinsam diskutiert und beschlossen oder verändert wurde. In Düsseldorf wurde stattdessen die Vertrauensleuteleitung um weitere Streikaktivisten erweitert.
Dabei hielten sich die Streikenden nicht daran, welche althergebrachten Regeln in Tarifauseinandersetzungen üblich sind. In einigen Fällen entschieden sie einfach, die gängigen Rituale zu ignorieren. Das führte zu Diskussionen in der Gewerkschaft ver.di – und auch diese Diskussionen stärkten das Selbstbewusstsein der Streikenden. Denn wieder zeigte sich, dass sie selbst die bestimmenden Akteure sind und die Entscheidungen weder irgendwann gewählten Vertretern überlassen noch einem oftmals undurchsichtigen Apparat – denn weder solche Vertreter noch hauptamtliche Gewerkschafter sind es, die den entscheidenden Kampf im Betrieb führen.
Ausschwärmen statt abkapseln
Das war die Grundlage für die zweite zentrale Stärke des Streiks: Die aktiven Kolleginnen und Kollegen waren ständig im Gespräch mit denen, die nicht oder noch nicht streikten. Denn so mächtig der Streik war: Gestreikt hat nur eine Minderheit der Beschäftigten. Schon in der Aufbauphase gingen die Streikenden gezielt in alle Bereiche der Kliniken, um mit den Beschäftigten zu erarbeiten, was an ihrem Arbeitsplatz zur Entlastung nötig ist. Auf dieser Grundlage stellten sie detaillierte Streikforderungen auf und füllten die Forderung nach Entlastung mit konkretem Inhalt.
Auch in den späteren Phasen des Streiks waren die Streikenden im Betrieb unterwegs. In kleinen Gruppen gingen sie auf die Stationen und in die Abteilungen, sie berichteten über Ergebnisse der Streikversammlung und neue Entwicklungen, sie sprachen mit den Kollegen über negative Auswirkungen des Streiks und über die Sorgen, die sie davon abhielten, mit den anderen zu streiken. Die engagierteste Rede im Streikzelt, das schärfste Flugblatt und der breiteste Mailverteiler können nicht ersetzen, was das persönliche Gespräch der Streikenden mit ihren Kolleginnen und Kollegen erreicht.
Genauso war es bei den verschiedenen Besuchen, zu denen die Streikenden in Bussen in andere Kliniken oder zu ebenfalls kämpfenden Belegschaften fuhren, wie zu Amazon. Am wichtigsten war das Ausschwärmen der Streikenden, bei dem sie von ihren Aktionen, den Angriffen der Vorstände und den Problemen erzählten, die ein Streik mit sich bringt. Auf diese Weise warben die Streikenden erfolgreich für Solidarität – erfolgreicher als mit zentralen Kundgebungen oder inszenierten Aktionen. Die Streikenden selbst nahmen in diesen Gesprächen erneut wahr, dass sie selbst die Verantwortung für ihren Streik übernommen haben, dass sie selbst in der Lage sind, Solidarität zu organisieren und zu erwarten, und dass auch sie selbst darüber bestimmen, wann der Streik endet.
Immer um alle
Diese beiden Elemente stehen im Zusammenhang mit der dritten zentralen Stärke der Klinikstreiks in Düsseldorf und Essen: Es ging immer um alle Beschäftigten des Betriebes. Es ging nicht nur um Entlastung für die Pflegekräfte, sondern genauso für Reinigungskräfte und Verwaltungsangestellte. Wo die Vorstände versucht hatten, die Belegschaft mit Outsourcing zu spalten, setzten die Streikenden ihr Selbstverständnis der Solidarität dagegen.
Nur auf der Grundlage dieser drei Faktoren konnten andere wichtige Dinge und gute Entscheidungen eine echte Wirkung haben – wie zum Beispiel die Unterstützung durch Bündnisse außerhalb der Krankenhäuser und eine wirksame Streikstrategie.
Wir erleben eine lange Phase von selten wirklich erfolgreichen Abwehrkämpfen und eher schwachen Lohnrunden mit wenig Beteiligung aus den Belegschaften. 2015 waren es dann die Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst, 2018 die Streiks an den Unikliniken Düsseldorf und Essen, die den Vorständen, Politikern und auch den Belegschaften selbst klar gemacht haben, was die Unternehmer verschleiern wollen: Der Betrieb läuft nur, wenn die Beschäftigten ihn am Laufen halten. Die Streikenden haben die Dinge in die eigenen Hände genommen – so sehr, dass auch die vermeintliche Übermacht der „Arbeitgeber“ den Streik nicht zerschlagen konnte. Diese Erfahrungen zu verbreiten kann helfen, die nächsten mächtigen Streiks vorzubereiten. Denn diese Erfahrungen zeigen praktisch und konkret, dass es sich lohnt, auf die Kraft der Arbeiterklasse zu vertrauen.