Carlsen spielt nicht mehr um die Weltmeisterschaft, steht aber trotzdem im Mittelpunkt

König ohne Brett

Im Dezember 2021 saßen Schachfans auf der ganzen Welt vor ihren Bildschirmen und starrten gebannt auf zwei Männer, die ihrerseits in einem Glaskasten hockten und auf ein Brett starrten. Der norwegische Weltmeister Magnus Carlsen und sein russischer Herausforderer Jan Nepomnjaschtschi, in der Schachwelt nur Nepo genannt, hatten bereits fünf Partien hinter sich gebracht. Alle waren unentschieden ausgegangen. Die sechste Runde wurde zum Wendepunkt. Sie dauerte über acht Stunden und wurde mit 136 Zügen zur längsten Schachpartie der WM-Geschichte. Carlsen gewann den Marathon und ging in Führung. Nepo erholte sich nicht mehr von diesem Kraftakt. An den folgenden Tagen spielte er teils fahrig, ging Risiken ein und patzte mehrfach im Mittelspiel. Am Ende der 11. Partie lag Carlsen uneinholbar vorn. Der Weltmeistertitel blieb in Norwegen.

In wenigen Monaten hätten die beiden Kontrahenten wieder aufeinandertreffen können. Nepo gewann das Kandidatenturnier 2022 und qualifizierte sich damit für einen Rückkampf. Doch Carlsen hatte andere Pläne. Im Juli des vergangenen Jahres gab er bekannt, seinen Titel nicht verteidigen zu wollen. Die Ankündigung kam nicht vollkommen unerwartet. Schon während der Weltmeisterschaft 2021 hatte Carlsen von Motivationsproblemen gesprochen. Zu den Partien ließ er sich von einem bis dahin unbekannten Mann begleiten, den er als seinen „Hype Man“ vorstellte. Der persönliche Anheizer sollte ihm Lust auf das Schachspielen machen und ihn nebenbei in Stil- und Musikfragen beraten. Dass Carlsen trotzdem erst das Ende des Kandidatenturniers abwartete, um seinen Rückzug bekanntzugeben, ließ die Schachwelt gespalten zurück. Einem alternden Boxer wird es kaum verübelt, wenn er die morsche Kauleiste nicht länger in den Ring halten will. Für einen 32-jährigen Schachspieler gilt diese Nachsicht nicht.

Zumal Carlsen viel daran setzte, sich immer wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Seinen Rückzug gab er werbewirksam in einem neuen Podcast namens „The Magnus Effect“ bekannt, der sich hauptsächlich um die Banalitäten im Leben eines Schachweltmeisters drehte. Für die Zeitung „Die Zeit“ war es der „langweiligste und belangloseste Podcast, den man sich vorstellen kann.“ Danach wurde es kurzzeitig etwas ruhiger um den Weltmeister im Wartestand. Im September 2022 verlor er dann überraschend gegen den 19-jährigen Großmeister Hans Niemann. Carlsen brach das Turnier, auf dem die beiden gespielt hatten, ohne Erklärung ab und heizte damit die Gerüchteküche an. Erst Wochen später erklärte er sein Verhalten und warf Niemann öffentlich vor, in der Partie gegen ihn betrogen zu haben. Mit dieser schweren Anschuldigung nahm der größte Schachskandal der vergangenen Jahre seinen Lauf.

Das Online-Unternehmen chess.com legte einen Bericht vor, der Niemann Betrug beim Internet-Schach unterstellte, aber keinen Beweis für Schummeleien am Brett liefern konnte. Niemann selbst gab zu, in früheren Jahren am Computer betrogen zu haben, wies jedoch alle weiteren Vorwürfe zurück. Er bot sogar an, unbekleidet zu spielen, um die Betrugsvorwürfe zu entkräften. Eine Erotik-Seite bot ihm eine Million Dollar für die Nacktpartie, die niemals stattfand. Schließlich zog Niemann vor Gericht und verklagte Carlsen, chess.com und andere Beteiligte auf rund 100 Millionen US-Dollar. Seine Grundaussage: Carlsen und die Online-Schachindustrie hätten sich gegen ihn verschworen, um seine Karriere zu zerstören. Das klingt abenteuerlich. Doch Carlsens Verbindungen zu chess.com sind eng. Seit vergangenem Jahr arbeitet er als Markenbotschafter des Konzerns. Viele Großmeister, die sich im Zuge des Skandals mit Carlsen solidarisierten, sind ebenfalls bei chess.com aktiv.

Es bleibt festzuhalten: Bisher wurden weder Beweise für Niemanns Betrug noch für die behauptete Verschwörung gegen ihn vorgelegt. Solange das Verfahren läuft, wird wohl kaum Ruhe einkehren. Trotz all des Trubels wird ab dem 7. April die Weltmeisterschaft stattfinden. Da Carlsen nicht mehr antritt, trifft Jan Nepomnjaschtschi auf den chinesischen Großmeister Ding Liren, der das Kandidatenturnier als Zweitplatzierter beendet hatte. Die Kombination verspricht frische Partien auf höchstem Niveau. Ob es den Kontrahenten dabei gelingt, die Geister des vergangenen Jahres zu ignorieren und dem Schachsport die jüngste Dekadenz auszutreiben, wird sich zeigen. Als gesichert dürfte hingegen gelten, dass sie bekleidet spielen und ohne „Hype Man“ auftreten werden.

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"König ohne Brett", UZ vom 20. Januar 2023



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