Zu den Moskauer Prozessen 1936/38

„Koba, wozu brauchst Du meinen Tod?“

Von Robert Steigerwald

In der Zeit der sogenannten „Moskauer Prozesse“ der Jahre 1936 bis 1938 wurden Zehntausende führende Funktionäre des Sowjetstaates als Staatsfeinde angeklagt, schuldig gesprochen und hingerichtet. Unter ihnen Nikolai Bucharin, am 13. März 1938 zum Tode verurteilt und erschossen. Mit den die kommunistische Bewegung bis heute belastenden Erscheinungen des „Großen Terrors“ setzte sich Robert Steigerwald in einem Beitrag für die „Marxistischen Blätter“ 5/2007 auseinander, den wir hier – stark gekürzt – wiedergeben.

Der Antikommunismus wird in den Monaten, da sich die Moskauer Prozesse von 1936 bis 1938 jähren, äußerlich das Geschehene verurteilend, innerlich jedoch die Ermordung so vieler gestandener Revolutionäre genießen. Manche Kommunisten/Sozialisten beiderlei Geschlechts sind wütend, wenn auch wir auf diese Prozesse zu sprechen kommen und meinen, das sei Defätismus (politische und ideologische Entwaffnung der eigenen Reihen). Mit diesem Vorwurf begehen sie gleich eine ganze Reihe von Fehlern.

1. Defätismus? Man soll Ursache und Wirkung nicht verwechseln. Die ideologische und politische Entwaffnung unserer Reihen findet nicht dadurch statt, dass wir uns mit wirklichem Geschehen auseinandersetzen. Der Vorwurf wäre aber berechtigt, wenn diese nötige Auseinandersetzung in antikommunistischer Manier stattfände. Natürlich wird der Gegner mit einem Riesenschwall von Lügen arbeiten. Das ist so seit Jahr und Tag und wird auch in der Zukunft so bleiben.

2. Die Tuchatschewski-Affäre (dazu später) hat die Rote Armee beim Überfall Nazideutschlands zu furchtbaren Opfern, das Land fast an den Rand des Zusammenbruchs geführt: Das war de facto Defätismus!

3. Wer in solchen Fällen schweigt, gibt zu erkennen, dass er ein schlechtes Gewissen hat. Übrigens: das müssen wir auch haben. Und gerade deshalb müssen wir uns zum Thema äußern.

4. Das Problem, um das es geht, stellt eine riesige Hürde zwischen uns und jenen vor allem jungen Menschen dar, die wir für unsere Sache gewinnen wollen. Wenn wir sie ansprechen wollen, müssen wir uns dem Thema stellen, müssen klar sagen, was wir über das Geschehene wissen, ob wir dafür triftige Gründe oder Verbrechen sehen, ob wir uns darüber Gedanken machen, wie man solche Dinge in Zukunft vermeiden kann.Wenn uns das nicht gelingt, bleiben die Türen zu uns verschlossen, da können wir noch so viel Positives über den zunächst unterlegenen Sozialismus mitteilen. Außerdem haben diese Ereignisse tiefgreifend und langwierig gewirkt. Nicht nur in der Sowjetunion, sondern in der kommunistischen Weltbewegung als Ganzer. Wir spüren die Nachwirkungen doch noch heute.

Worum geht es?

Um mehrere große Prozesse, die von 1936 bis 1938 in Moskau stattfanden. Betroffen waren alle noch lebenden bekannten führenden Genossen des Roten Oktober. Von den 25 Genossen, die zwischen 1919 und 1921 dem Zentralkomitee der Bolschewiki angehörten, starben nur vier nicht infolge der Prozesse, von den 32 Mitgliedern des Politbüros in den Jahren 1919 bis 1932 wurden 17, von den früheren Volkskommissaren 18, von den Botschaftern und Gesandten 16 hingerichtet. Von den ZK-Mitgliedern, gewählt vom XVII. Parteitag, fielen 70 Prozent und von seinen 1 966 Delegierten 1 108 den „Maßnahmen“ zum Opfer. Die Liste ist längst nicht vollständig. Gemäß heute zugänglichem sowjetischem Archivmaterial wurden damals 681 692 Hinrichtungen vorgenommen.

Manche wollen wegen der historischen Zusammenhänge die Prozesse rechtfertigen: Der Machtantritt der Nazis in Deutschland hatte die politischen Gewichte in Mitteleuropa erschüttert. Thälmanns Wort von 1932: „Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler! Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!“ oder Stalins Worte auf dem KPdSU-Parteitag von 1934, mit der Hitler-Partei sei jene Partei in Deutschland an die Macht gelangt, welche die Kriegserklärung an die Sowjetunion in der Tasche habe. Es war klar, dass sich die Sowjetunion auf diese neue Situation einstellen musste. Die Nazis brachen eine Festlegung des Versailler Vertrags nach der anderen: 1934 Aufhebung der Entmilitarisierung des Rheinlands, 1936 Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, 1938 „Anschluss“ Österreichs. Die Westmächte fielen Hitler nicht in den Arm.

Beim Bürgerkrieg in Spanien hatten sie sich ebenso „neutral“ verhalten wie bei Mussolinis Überfall auf Äthiopien. England schloss ein Abkommen mit Nazideutschland über dessen Seeaufrüstung. Beim Verrat in München warfen die Westmächte Hitler die Tschechoslowakei zum Fraß vor. Stalin musste erkennen, dass nicht nur Nazideutschland den Krieg gegen die Sowjetunion plante, sondern dass die Westmächte in diesem Krieg „Schmiere“ für Hitler stehen würden. Wenn immer mal wieder über Stalins Paranoia spekuliert wird – es gab wirklich eine Paranoia: Stalin musste sich entweder auf diesen Krieg oder auf die „Zusammenarbeit“ mit Nazideutschland einstellen – und die Geschichte lief darauf hinaus, dass er jede der „irrsinnigen“ Varianten „ausprobieren“ musste.

Angesichts dieser geradezu verrückten Sachlage musste sich die sowjetische Führung, und das hieß nun einmal Stalin, darüber Gedanken machen, wie es um das militärische Potential, um Ruhe und Frieden im Land bestellt sei. Zu den historischen Zusammenhängen gehört auch die wechselvolle Geschichte des Sowjetlandes selbst. Die war verbunden mit nicht wenigen Auseinandersetzungen, hatte auch zur Bildung von Lagern und Fraktionen geführt.

Wie also stand es um die innere Stabilität des Landes, wie würde sie sich im Fall des Krieges mit dem hoch gerüsteten deutschen Imperialismus bewähren?

Es ging um Fragen des Lebens und Überlebens der Sowjetmacht. Nicht nur Stalin stellte sich solchen Fragen: „Wir hätten größere Verluste im Krieg erleiden können – vielleicht sogar eine Niederlage –, wenn die Führung instabil gewesen wäre und interne Uneinigkeit wie Risse in einem Felsen entstanden wäre …Wären keine brutalen Maßnahmen ergriffen worden, hätte es die Gefahr einer Spaltung der Partei gegeben.“ Es gibt sogar im letzten Brief, den Bucharin aus der Todeszelle an Stalin schrieb, einen Hinweis darauf, dass auch ihn diese Frage quälte: „Es existiert irgendeine große und kühne politische Idee einer generellen Säuberung a) im Zusammenhang mit einer Vorkriegszeit, b) im Zusammenhang mit dem Übergang zur Demokratie. Diese Säuberung erfasst a) Schuldige, b) Verdächtige und c) potentiell Verdächtige … Wäre ich völlig davon überzeugt, dass Du genau so denkst, so wäre es mir bedeutend leichter ums Herz.“ (Vor seiner Ermordung bat er um einen Zettel und einen Bleistift. Beides wurde ihm gewährt. Er schrieb darauf: „Koba, wozu brauchst Du meinen Tod?“ Koba, das war einer der Umgangsnamen Stalins.)

Die Frage, wie eine Staats- und Parteiführung auf Gefahren dieser Art reagiert, kann nicht am Maßstab des sogenannten normalen Verhaltens beurteilt werden. Es gab sicher eine Anzahl von Gründen für die Moskauer Prozesse, sicherlich Feinde der Partei, des Staates, auch Stalins persönlich, und es gab natürlich auch „Rivalen“ und folglich gab es auch „persönliche“ Gründe. Doch man sagt, die Prozesse hätten dem Schutz des Landes gedient. Denn es geht ja doch gegen all unsere ideologischen, politischen und moralischen Überzeugungen anzunehmen, dass Kommunisten, Sozialisten, eine sozialistische Staatsmacht anders handeln könnten als zur Abwehr größter Gefahren wirklich nötig sein müsste.

Haben also die Maßnahmen tatsächlich dem vorgegebenen Zweck gedient? Hat die faktische Enthauptung der Roten Armee, hat die im Gefolge der Tuchatschewski-Affäre erfolgte Vernichtung ihrer militärischen und politischen Führung bis hinab auf die Ebene der Bataillone dem Schutz des Landes gedient? Dies hat doch dazu geführt, dass der kopflos gemachten Armee beim Beginn des Naziüberfalls furchtbare Verluste zugefügt, das Land fast an den Abgrund gestoßen werden konnte.

Haben die Prozesse Beweise für das Vorhandensein einer „Fünften Kolonne“ im Land erbracht? Und wenn es solches Potential gegeben habe, wie groß hätte es sein können? Zu fragen ist, wie solches „Beweismaterial“ herausgefunden wurde, auch zu fragen ist nach der Verhältnismäßigkeit der durchgeführten Maßnahmen und angewandten Mittel.

Dazu gibt es Feststellungen eines Mannes, der es nicht nur wissen musste, sondern selbst neben Stalin führend an den „Maßnahmen“ beteiligt war. Die Rede ist von Molotow. Im Jahre 1973 sagte er in einem Interview: „Die Geständnisse“ (der Moskauer Prozesse) „schienen nicht echt und übertrieben zu sein. Ich erachte es für unvorstellbar, dass Rykow, Bucharin und sogar Trotzki den sowjetischen Fernen Osten, die Ukraine und selbst den Kaukasus an eine fremde Macht abtreten wollten. Das schließe ich aus.“ Aber gerade wegen dieser Vorwürfe wurden Bucharin und Rykow erschossen! „Es ist tatsächlich sehr traurig, dass so viele unschuldige Menschen sterben mussten.“ „Ich unterschrieb Listen mit Namen von Menschen, die aufrechte und engagierte Bürger gewesen sein könnten.“

Halten wir fest: Falsche Geständnisse, viele unschuldige Menschen.Vor dem Hintergrund solcher Selbstzeugnisse Molotows und anderer Genossen: Wo ist da die „Fünfte Kolonne“? Sie existierte in erfolterten „Geständnissen“. Mehr gab es nicht. Zumal Bucharin erklärte, seit sieben Jahren keine Meinungsverschiedenheit mit der Partei, der Parteiführung, der Parteilinie mehr gehabt zu haben. In seinem letzten – bereits erwähnten – Brief an Stalin aus der Todeszelle schrieb er: „Ich schreibe diesen Brief wahrscheinlich als meinen letzten Brief vor meinem Tode. … Am Rande des Abgrunds stehend, aus dem es kein Zurück gibt, gebe ich Dir mein allerletztes Ehrenwort, dass ich die Verbrechen, die ich während der Untersuchung zugegeben habe, nicht begangen habe … In all den letzten Jahren habe ich mich ehrlich und aufrichtig an die Parteilinie gehalten …“

Irrsinnigste Geständnisse – nicht nur jene Bucharins – wären unnötig gewesen, hätte es in den Prozessen materielle Beweismittel gegeben. Wenn es um Verschwörungen jenes Ausmaßes gegangen wäre, bei so vielen Zehntausenden Betroffenen, hätte man unweigerlich mehr für die Prozesse zu Händen gehabt als nur „Geständnisse“ als einzige Prozessmittel.

Bucharin hat gestanden

Tuchatschewski war der Oberbefehlshaber der Sowjetarmee, er wurde der Planung eines militärischen Putsches gegen die Sowjetführung beschuldigt und deswegen hingerichtet. Die „Affäre“ wird als gezielte Provokation entsprechender Stellen im faschistischen Deutschland dargestellt, die in bestimmten Kreisen der sowjetischen Sicherheitsorgane bereitwillig aufgegriffen wurde.

Dennoch: Nehmen wir an, die Putschpläne hätte es gegeben, so stellen sich folgende Fragen: Rechtfertigte der Verrat des militärischen Oberbefehlshabers (der natürlich Mitwisser und Mistreiter haben muss) das, was der Hinrichtung Tuchatschewskis und anderer folgte? Im Ergebnis wurden vernichtet: drei von fünf Marschällen, 13 von 15 Armeegenerälen, 62 von 85 Korps-Kommandeuren, 110 von 195 Divisions-Kommandeuren, 220 von 406 Brigade-Kommandeuren. Verhaftet wurden 6 000 Offiziere vom Oberst aufwärts, davon wurden 1 500 hingerichtet. Die Gesamtzahl der bei dieser Kampagne ermordeten Offiziere betrug – die Zahlen sind unterschiedlich – mindestens 20 000. Faktisch wurde dadurch mittelbar dem Feind geholfen!

Wie reagierte Hitler auf diese Hinrichtung einer angeblichen Fünften Kolonne, war er betroffen über diesen „Verlust“ seines angeblichen Potentials in der SU? Darüber sprach Keitel während des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses: „Stalin hat 1937 die erste Garnitur seiner Offiziere liquidiert.“ Und „die neue Generation verfügt noch nicht über die Hirne, die gebraucht werden.“

Es gibt über jeden Zweifel erhabene Zeugen, Zeugen aus der deutschen kommunistischen Bewegung. Werner Eberlein berichtet, sein Vater Hugo, enger Freund Lenins und Rosa Luxemburgs, Mitbegründer von KPD und Komintern, sei gefoltert worden. „Man habe von ihm ein Geständnis über eine angebliche Agententätigkeit Wilhelm Piecks“ (!) „erpressen wollen und ihm bei Verhören einen Lungenriss zugefügt“. In einem Brief an das Politbüro der KPD, den er herausschmuggeln konnte, berichtete Hugo Eberlein, man habe ihn mit Faustschlägen und Fußtritten gefoltert, wenn er ohnmächtig geworden sei, habe man ihm Opium gespritzt, damit man ihn weiter foltern konnte. Er habe nicht gestanden. Er wurde erschossen.

Was hier geschah, konnte nicht mit der Bedrohung durch Nazideutschland gerechtfertigt werden. Wir müssen mit aller Deutlichkeit sagen: Es wurden in durch nichts zu rechtfertigender Weise Verbrechen gegen alles verübt, was für Kommunisten auf der Grundlage ungeschriebener Gesetze kommunistische Moral ausmacht.

Wenn man nicht in den Fehler verfallen will, geschichtliches Geschehen eines solchen Ausmaßes aus der Psyche eines Einzelnen zu erklären muss man nach objektiven Bedingungen fragen, die solche Prozesse möglich machten.

Die Verhältnisse waren für die Oktoberrevolution äußerst ungünstig, doch war sie nötig, wenn Russland aus dem Völkergemetzel des Ersten Weltkrieges herausgerissen, Möglichkeiten geschaffen werden sollten für den Frieden, für die Übergabe des Bodens an die Bauern, die ihn bearbeiteten, für die Lösung der kulturellen und nationalen Probleme des Vielvölkerstaates. Im Bürgerkrieg und in der Intervention mit ihrem Massenelend, der Hungersnot, dem Ausbluten der ohnehin nicht sehr starken Arbeiterklasse an den Fronten – also der entscheidenden Basis der Revolution – wurde es unvermeidbar, dass die Partei die Aufgaben der zerrütteten Staatsmacht übernehmen musste. Nicht breit entfaltete Demokratie stand auf der Tagesordnung, sondern eiserne Disziplin und härteste Zentralisation aller Kräfte des Landes. Auf solchem Boden können Bedingungen für Entartungserscheinungen entstehen, aber sie müssen nicht entstehen. Lenin hatte oft und keineswegs um geringfügige Dinge ernste Meinungsverschiedenheiten mit solchen Mitstreitern wie Bucharin, Kollontai, Kamenew, Sinowjew, auch Stalin und Ordschonikidse, nicht zuletzt Trotzki. Es ist Lenin nicht eingefallen, darin die Potenz für eine „Fünfte Kolonne“ zu sehen, die man vorsorglich kaltzustellen oder gar umzubringen habe, er hat diesen Genossen hohe und höchste Funktionen anvertraut. Unter solchen Bedingungen spielen Eigenschaften führender Persönlichkeiten eine durchaus zentrale Rolle. Lenin hat diese in seinem sogenannten Testament angeführt. Aber um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: An der Herausbildung autoritärer Strukturen, durch oben erwähnte Bedingungen begünstigt, waren verschiedene Parteiführer aktiv beteiligt, keinesfalls nur Stalin. Bucharin war zunächst dabei sein engster Verbündeter. Aber auch Kirow und Molotow, Ordschonikidse und andere hatten ihren Anteil. Sicher erleichterte das Fehlen einer demokratischen Tradition diese Vorgänge und die schon von Lenin entschieden bekämpfte Herausbildung von Bürokratie (zumal einer solchen mit zaristischem Hintergrund) bereitet den Boden für die Mentalität des Gehorchens, die dann auch durch Privilegien abgesichert werden kann. Dies hat die schleichende Deformation der Partei und des Staatsapparates, die Herausbildung eines autoritären Führungsstils bewirkt. Das wiederum führt dazu, mögliche „Rivalen“ des Autokraten und deren Anhang auszuschalten.

Sicher mag es hilfreich sein, wenn wir darauf aufmerksam machen, dass es die sowjetischen Kommunisten waren, die aus eigener Kraft diese schlimmste Seite in der Geschichte der kommunistischen Bewegung beendet und jene rehabilitiert haben, denen damals schwerstes Unrecht widerfahren ist. An der Art und am Umgang (oder Nicht-Umgang) der KPdSU mit diesen Problemen wird harsche Kritik geübt. Die SED hat zum Beispiel erst Mitte der Achtzigerjahre aus Moskau Listen bekommen mit Namen von Genossinnen und Genossen, von denen man bis dahin geglaubt hatte, sie seien während des Krieges, in der Illegalität usw. ums Leben gekommen, in Wahrheit aber waren sie Opfer des Terrors.

Einige Bemerkungen zu den nötigen Lehren. Wir müssen uns gründlich damit befassen, was solche Exzesse ermöglichte, welche Sicherungen dagegen möglich sein könnten. Und da kommen wir nicht an der Frage vorbei, wie es um die Sowjetmacht bestellt war und wie es um den Aufbau einer künftigen sozialistischen Staatsmacht bestellt sein könnte. Es geht also um ernste Lehren aus unserer Geschichte.

Meines Erachtens muss die Konzeption aufgegeben werden, wie sie den Räten zugrunde lag, dass im Sowjet die Einheit der Gewalten besteht, dass gesetzgebende, vollziehende und juridische Gewalt sich in der Hand des gleichen Kollektivs (im Falle Stalins sogar der einer einzelnen Person!) befinden. Es geht um die strikte Einhaltung sozialistischer Gesetze, um die Einrichtung entsprechender Kontrollsysteme (möglicherweise durch ein der sozialistischen Verfassung verpflichtetes Verfassungsgericht, durch eine Verwaltungsgerichtsbarkeit – sodass den Einzelnen und Kollektiven das Recht eingeräumt wird, juristische und politische Entscheidungen überprüfen zu lassen). Das läuft auf die Trennung der legislativen, exekutiven und juristischen Gewalt eines sozialistischen Staates hinaus.

Es ist auch zu bedenken, dass ein neuer Anlauf zum Sozialismus bei uns nur möglich sein dürfte, wenn breiteste Massen des Volkes diesen Anlauf bewirken, und eine solche Volksbewegung wird durchaus nicht homogen in sozialer, politischer und weltanschaulicher Hinsicht sein. Das aber hätte Konsequenzen für eine sich aus solch einer Bewegung ergebende Staatsmacht. Es sind Koalitionsregierungen und politisch-parlamentarische Fraktionen möglich, das also wäre der Staatstyp der demokratischen Republik, ganz so, wie ihn der späte Engels einmal meinte. Es müssen auch Konsequenzen hinsichtlich des Charakters der Partei, der Rolle und Bedeutung der Gewerkschaften und anderer gesellschaftlicher Institutionen gezogen werden.

An der Tatsache der genannten Verbrechen kann nicht gezweifelt werden, auch nicht daran, dass letztlich die Verantwortung dafür bei Stalin lag. Aber aus der gleichen Logik folgt auch die Verantwortung für das, was unter seiner Führung an weltgeschichtlich Bedeutendem stattfand! Stalin gehört mit diesem grässlichen Widerspruch nun einmal zu den weltgeschichtlich bedeutenden Persönlichkeiten, und mit Widersprüchen solcher Art sind so ziemlich alle großen Persönlichkeiten der Geschichte behaftet, ja man kann sie eigentlich nur in dieser Widersprüchlichkeit verstehen – sofern sie fortschrittlich gewirkt haben.

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"„Koba, wozu brauchst Du meinen Tod?“", UZ vom 16. März 2018



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