Vor 100 Jahren, am 1. März 1922, kam Jitzchak Rabin in Jerusalem zur Welt. Als in Palästina geborener Jude erlebte er die Geschichte des Landes vom britischen Mandatsgebiet über die Staatsgründung Israels und die folgenden Kriege bis zum zweiten Friedensabkommen von Oslo. In einem Festakt im Weißen Haus unterzeichnete er als Ministerpräsident am 28. September 1995 gemeinsam mit Jassir Arafat, Vorsitzender der palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), König Hussein von Jordanien, dem ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak und US-Präsident William Clinton das Abkommen.
Wenige Wochen später erklärte er auf einer Kundgebung für den Frieden auf dem „Platz der Könige Israels“: „Ich möchte gerne jedem Einzelnen von euch danken, der heute hierhergekommen ist, um für Frieden zu demonstrieren (…) Der Weg des Friedens ist dem Weg des Krieges vorzuziehen. Ich sage euch dies als jemand, der 27 Jahre lang ein Mann des Militärs war.“
Ein Mann des Militärs – seit früher Jugend. Mit 19 wurde Rabin im Kibbuz Ramat Jochanan für den neu gegründeten Palmach rekrutiert, eine Eliteeinheit der zionistisch orientierten paramilitärischen Untergrundorganisation Hagana. Er kämpfte als Angehöriger der britischen Armee im Syrisch-Libanesischen Feldzug gegen Einheiten der profaschistischen französischen Vichy-Regierung, nahm an Kommandounternehmen teil und war an der Befreiung von Einwanderern beteiligt, die von den britischen Behörden interniert worden waren. Er wollte nicht, dass sie in Palästina interniert und zurückgeschickt wurden, nachdem sie gerade den Vernichtungslagern der Nazis entkommen waren. Es brachte ihm sechs Monate britische Haft ein.
Im Unabhängigkeitskrieg dagegen war Rabin unmittelbar verantwortlich für die Vertreibung von 50.000 oder mehr Palästinensern aus Lydda und Ramle. „Die Einwohner müssen schnell ohne Rücksicht auf das Alter (…) vertrieben werden“, heißt es in einem Befehl, der von Rabin unterzeichnet ist. Er war damals 26 Jahre alt – das brutale Vorgehen ist jedoch weder dem Krieg noch seiner Jugend geschuldet, wie sich später zeigen wird.
Rabin machte Karriere im israelischen Militär und brachte es dort bis zum Generalstabschef zur Zeit des Sechstageskrieges. Danach wechselte er in die Politik.
1973 wurde Rabin als Mitglied der Arbeitspartei Abgeordneter in der Knesset und Arbeitsminister unter Golda Meïr. Die Arbeitspartei – mit einer langen Geschichte von Spaltungen, Wiedervereinigungen und Umbenennungen – ist eine sozialdemokratisch-zionistische Partei und stellte bis 1977 alle Ministerpräsidenten Israels.
Am 3. Juni 1974 löste er Meïr als Ministerpräsident ab. 1977 wurde bekannt, dass seine Frau illegal ein Dollarvermögen in Millionenhöhe angehäuft hatte. Rabin übernahm dafür die Verantwortung und trat von seinen Ämtern zurück.
Von 1984 bis 1990 kam er als Verteidigungsminister wieder zu Amt und Würden. Jetzt war er 65 Jahre alt und wie in seiner Jugend zeigte er seine ganze Brutalität. Der „Krieg der Steine“ – die erste Intifada, die 1987 begann – sollte mit Gewalt unterdrückt werden. „Für die Palästinenser wird Rabin zunächst als jemand erinnert, der den Soldaten die Instruktion gegeben hat, ihnen Arme und Beine zu brechen“, wenn sie in der Intifada Steine warfen – so schrieb die israelische Journalistin Amira Hass in der Zeitung „Haaretz“. Die Instruktion wurde umgesetzt, was Rabin bei den Palästinensern den Namen „Knochenbrecher“ einbrachte.
Zum Ende der 1980er Jahre wandelte Rabin sich vom Saulus zum Paulus – er wurde zu einem der Architekten des Friedensprozesses und erhielt 1994 dafür gemeinsam mit Jassir Arafat und Schimon Peres den Friedensnobelpreis. 1989 nahm das israelische Kabinett seinen Plan zu einer Zusammenarbeit mit den Palästinensern an, eineinhalb Jahre nach Beginn der ersten Intifada. Die ersten Friedensgespräche wurden 1991 unter Ausschluss der PLO begonnen. Erst zwei Jahre später kam es zu direkten Gesprächen, die zum ersten Oslo-Abkommen führten. Es sah den Rückzug der israelischen Armee aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen und die Selbstverwaltung der Palästinenser vor. Diese erklärten dafür einen Gewaltverzicht. In den folgenden Verhandlungen ging es um den Status der palästinensischen Gebiete und die Frage der von der UNO geforderten Zweistaatenlösung. Der „Weg des Friedens“ schien beschritten.
„Ja zum Frieden, Nein zur Gewalt“ war das Motto der schon oben erwähnten Kundgebung, auf der Rabin – ab 1992 erneut Ministerpräsident – Minuten vor seiner Ermordung am Abend des 4. November 1995 sprach. Erschossen wurde er nicht etwa von einem „arabischen Terroristen“, sondern von einem israelischen religiösen Fanatiker, Jigal Amir. Nach Rabins Tod fiel der Friedensprozess in ein Koma. Es ist müßig, zu spekulieren, welchen Einfluss das Attentat auf die Entwicklung hatte. Auf jeden Fall wurde Rabins Friedenspolitik nicht weiter fortgesetzt.
Schimon Peres, Rabins Stellvertreter, übernahm nach dessen Tod das Amt des Ministerpräsidenten und rief bald Neuwahlen aus. Unerwartet gewann Benjamin Netanjahu die Wahl.
Es war ein abrupter Wandel vom „Frieden für alle“ hin zur „Sicherheit für Israel“. Zu dessen Ursachen gehörte die enttäuschte Erwartung vieler Palästinenser auf einen eigenen Staat, die bis zu Selbstmordattentaten führte. Vor allem aber war dieser Wandel auf die sozialen Verwerfungen in Israel aufgrund des – durchaus erwünschten – Zustroms von immer mehr Immigranten zurückzuführen. In den zehn Jahren zwischen 1990 und 2000 wanderten mehr als eine Million Menschen nach Israel ein. Sie kannten Palästinenser nicht als Nachbarn, mit denen man mehr oder weniger gut zusammenlebte. Sie betrachteten in vielen Fällen die Palästinenser als Räuber, die die Westbank besetzten.
Und schließlich gibt es eine Konstante in der israelischen Politik: die Siedlungspolitik. Stetig, ohne großes Auf und Ab und unabhängig von Zeit, Regierungskoalitionen, Krieg oder Verhandlungen wächst die Zahl der Siedler. Jahr für Jahr gibt es seit 1983 11.000 israelische Siedler mehr als im Jahr zuvor, die auf der Westbank leben.
Für Israel ist die Westbank „Judäa und Samaria“, der biblische Name wird in den offiziellen Statistiken für die Gebiete des Westjordanlands und die dort errichteten israelischen Siedlungen verwendet. Viele Israelis sehen darin das Herz Israels. Hier ist kein Platz für einen palästinensischen Staat.
Jigal Amir, der Rabin ermordete, war nicht allein. Rechtsgerichtete Parteien und Politiker betrachteten damals den Friedensprozess als Verrat und Ketzerei. Heute ist Israels Politik – weit über die rechten Parteien hinaus – von einem Weg des Friedens Lichtjahre entfernt.
Die Stimmen von Zehntausenden, die Rabins Friedenspolitik bejubelten, sind verstummt, die Hoffnung auf die Zweistaatenlösung ist erloschen. Die Politik des Militärs, des „Knochenbrechers“, der Apartheid hat vorerst gewonnen.