Die Wahlkabinen waren am 26. Mai kaum geschlossen, da ergriff CDU (2014: 30 Prozent, 2019: 22,6 Prozent) und SPD (2014: 27,3 Prozent, 2019: 15,8 Prozent) Panik. Weil sie zu wenig übers Klima und nicht mit Youtubern gesprochen hätten, hieß es noch am Sonntagabend, seien ihnen vor allem die jungen Wähler davongelaufen. Jeweils über eine Million Stimmen hatten beide Parteien allein an die Grünen (2014: 10,7 Prozent, 2019: 20,5 Prozent) verloren. Die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles, die Ende August 2018 erklärt hatte, ihre Partei stehe für eine „Blutgrätsche gegen die Braunkohle“ nicht zur Verfügung, begann ihre Selbstabwicklung. Ein Ende der Kohleverstromung ohne Rücksicht auf die Interessen der Bergleute oder gar der Industrie hatte allerdings nie jemand vorzuschlagen gewagt. Der Nahles-Spruch war ein Propaganda-Eigentor. Der ungewohnt geräuscharme Rücktritt Nahles‘ ist eine Fernwirkung.
Denen folgten bis zum Dienstag dieser Woche weitere, bevor das Thema abgehakt wurde. Am schnellsten kam Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) aus der Deckung. Montagmittag gab sie ihren seit Februar vom Kanzleramt gestoppten Entwurf für ein Klimaschutzgesetz in die Abstimmung der betreffenden Ministerien. Als „Ressortchefin für Klimaschutz“ könne sie nun nicht mehr länger auf „Befindlichkeiten in der Union Rücksicht nehmen“. Bis dahin hatte sie sich seit ihrer Ernennung auf Tauchstation befunden.
Die Union aber hatte kein Verständnis für die Anrempelei. Georg Nüßlein (CSU), stellvertretender Fraktionsvorsitzender im Bundestag, nannte Schulzes Aktion „ein durchsichtiges, panikgetriebenes Manöver und ein klares Foulspiel.“ Er verlangte vom „Klimakabinett“ ein Konzept, weil Schulzes Entwurf „den Weg in eine Klimaplanwirtschaft“ weise, das sei „mit uns nicht zu machen“.
Nüßlein sprach eine Wahrheit aus, die ihm selbst nicht klar ist, in Bewegungen wie „Fridays for Future“ aber um sich greift: Klimaschutz und Kapitalismus sind unvereinbar. Die Dialektik: Planwirtschaftliches geht auch im Kapitalismus. Erst in der Woche zuvor hatte die Bundesregierung ganz in diesem Sinn 40 Milliarden Euro als Kompensation für das Ende der Braunkohleverstromung versprochen. Den größten Teil davon sollen ostdeutsche Regionen erhalten. Das Problem: Dort glaubt ein großer Teil der Wähler Regierungsankündigungen nicht mehr und stimmte für die AfD.
Für Union und SPD kein Anlass für eine Kursänderung. Das zeigte sich am Mittwoch. Regierungssprecher Steffen Seibert teilte nach einer Sitzung des „Klimakabinetts“ mit, die Koalition wolle sich nicht unter Zeitdruck setzen lassen und im September irgendetwas entscheiden. Rituell setzte er hinzu, an den nationalen Klimazielen bis 2030 halte die Regierung fest. Das hatte schon vor den Wahlen niemand ernstgenommen. Seibert hatte im übrigen wieder sattsam bekannte Ankündigungen statt Festlegungen zu melden: Steuersenkung bei Gebäudesanierung, mehr Zuschuss für den Kauf kleiner Elektroautos, Senkung der Mehrwertsteuer für Bahnfahrten von 19 auf sieben Prozent, mehr Ökoflächen, strengere Düngeregeln etc.
Am Montag hatte sich die Aufregung gelegt, es gilt wieder „Weiter so!“. Der CDU-Vorstand beschloss, zum Klimaschutz eine gemeinsame Position mit der CSU auszuarbeiten. Federführend unter anderem: Georg Nüßlein. Und „Weiter so!“ ordnete am Dienstag auch BDI-Chef Dieter Kempf im Deutschlandfunk an. Die Koalition müsse wieder „zum Regierungshandeln übertreten“. Bisher habe sie vor allem „soziale Wohltaten“ verteilt, während sich „zwei wirtschaftliche Giganten, USA und China, bekriegen“. Das führe jetzt dazu, dass der Finanzminister „zu wenig Geld für investive Dinge“ spendiere. Im übrigen stehe die deutsche Industrie „ganz stark zu den Klimaschutzzielen 2050“ und habe ein eigenes Konzept dazu vorgelegt.
Union und SPD müssen nur noch abschreiben. Das bisschen Klimaschutz macht sich für Fans des Kapitalismus fast von allein.