Das vorläufige Verhandlungsergebnis zwischen der Rest-EU und Britannien über dessen Austritt hat im politischen London für große Aufregung, bei den EU-Oberen Genugtuung und beim Publikum Verwirrung ausgelöst. In London trat der Brexit-Minister Dominic Raab von seinem Amt zurück. Er hatte die Verhandlungen mit den Brüsseler Politikern nicht geführt, sondern Premierministerin Theresa Mays Vertraute. In der regierenden konservativen Unterhausfraktion kursierten Unterschriftenlisten für ein Misstrauensvotum gegen May. Die Brexit-freundliche und zugleich rechte Presse trompetete jede Anmerkung erzkonservativer Tories wie die des Ex-Außenministers Boris Johnson nach draußen. Frau May hatte sogar Mühe, das Verhandlungsergebnis am Mittwoch vor einer Woche vom eigenen Kabinett billigen zu lassen. Nach einer abschließenden Verhandlung mit der Rest-EU soll der Trennungsvertrag im Dezember vom britischen Unterhaus beschlossen werden. Nach einem Ja sieht es derzeit nicht aus: Für eine Mehrheit ist Frau May auf die kleine, ebenfalls erzreaktionäre Unionisten-Fraktion angewiesen, die sich gegen das Verhandlungsergebnis stellt. Die oppositionelle Labour-Party ist in der Brexit-Frage gespalten. Aber selbst die übelsten Kapitulanten vom Typ Tony Blair werden es kaum wagen, Frau May in der Frage zu stützen und damit eine Neuwahl des Parlaments zu vermeiden.
Das Verhandlungsergebnis ist keineswegs sensationell. In den entscheidenden Fragen der Zollunion und dem Binnenmarkt bleibt zunächst alles beim alten. Am bereits festgelegten Tag des Austritts, am 29. März 2019, wird es keine Lastwagenstaus in Dover und keine Kurzarbeit wegen Lieferschwierigkeiten auf beiden Seiten des Ärmelkanals geben. Zwischen den 27 EU-Staaten und Britannien werden auch künftig keine Zölle erhoben. Bis auf weiteres unterwirft sich das Königreich auch den Regeln des Binnenmarktes, die von der EU-Kommission und den EU-Gerichten formal überwacht werden. In den vielen Gremien, Ausschüssen und Organisationen, welche die Binnenmarktregeln formulieren, hat Britannien künftig kein Mitspracherecht. Stattdessen werden solche Regeln, wie mit anderen EU-nahen Staaten üblich, bilateral ausgehandelt. Freihandelsabkommen mit Drittstaaten, etwa mit den USA, wie sie die rechten Brexit-Freunde schon freudig erwarten, sind erst möglich, wenn der Austritt aus dem Binnenmarkt-Abkommen und ein eigenes Freihandelsabkommen mit der EU nach weiteren Verhandlungen geklärt ist. Auch Nordirland bleibt so lange im EU-Binnenmarkt, bis sich die EU und Britannien auf ein Freihandelsabkommen geeinigt haben.
Wenn Britannien nicht mehr Teil des Binnenmarktes ist, werden die Londoner Banken formal-rechtlich nicht mehr die Freiheit genießen, in den 27 übrigen EU-Ländern Bankgeschäfte betreiben zu können. In Paris, Amsterdam und Frankfurt freut man sich schon darauf, dass weitere Finanzkonzerne Tochterunternehmen auf dem Kontinent gründen werden. Die Frage ist allerdings noch nicht entschieden. Möglich ist durchaus, dass den Großkonzernen auf dem Kontinent (und denen aus den USA) ein Off-Shore-Finanzparadies London mit Kapitalbewegungsfreiheit auf dem europäischen Kontinent sehr lieb ist und sie auch durchsetzt.
Bei den EU-Institutionen und den Regierungen in Paris und Berlin herrscht Zufriedenheit. Die getroffenen Regelungen werden den Handel mit Britannien nicht stören. Zugleich, und noch wichtiger, werden die neoliberalen Regeln des Binnenmarktes, insbesondere der freie Fluss des Kapitals, auf absehbare Zeit nicht beeinträchtigt. Warum auch? Gerade in diesen Fragen waren und sind sich die Regierenden beider Seiten einig. Zugleich hat die EU allen Austrittswilligen vorgeführt, wie wenig Ertrag ein Austritt aus der EU liefert. Das politische Theater in London verstärkt diesen Eindruck: Wer auf den Austritt aus der EU setzt, bekommt einen Sack voller Probleme, hat alle Mühe, ökonomisch auch nur den Status quo zu wahren und gefährdet seine politische Zukunft. Auch wenn die Regierung May stürzt, dürfte der Austritt Britanniens dem jetzt ausgehandelten Vertrag ähnlich sehen.
Den Regelungen (beziehungsweise den Kapitalfreiheiten) des EU-Binnenmarktes zu entkommen, muss von den Lohnabhängigen Britanniens erst noch erkämpft werden. Konkret wären sie mit dem jetzt ausgehandelten Scheidungsabkommen noch keinen Schritt weiter.