Von welcher Demokratie reden wir eigentlich? – Zwischenruf des Autorenkollektivs der Bildungszeitung zum reaktionären Staatsumbau

Klassenneutral geht nicht

Friedrich Engels polemisierte einst gegen den heute zu Recht vergessenen Eugen Dühring, der Begriffe metaphysisch und darum intellektuell unzureichend in ein Schema presste und dann auf diese Begriffe Wertungen verteilte. Engels nutzte dazu sogar den Bezug auf ein Bibelzitat: „Seine Rede ist, ja ja, nein nein, was darüber ist, ist vom Übel.“ Engels entwickelte auch die Gegenposition: Dinge wie auch ihre Gedankenabbilder sind nach den Regeln der Dialektik in ihrem Zusammenhang und ihrer Entwicklung zu betrachten. Die Dialektik ist deswegen revolutionär, weil es vor ihr und ihrem Standpunkt der Höher- und Weiterentwicklung kein ehernes Gesetz gibt. Die Arbeiterbewegung und später die kommunistischen Parteien an ihrer Spitze entwickelten daraus die Dialektik von weltanschaulicher Position und aktueller, historisch-konkreter Analyse. Das verbietet einfache Antworten von wegen ja ja, nein nein und alles darüber sei vom Übel. Die Anwendung dieser Dialektik ist Ausdruck der Klassengebundenheit unserer Weltanschauung.

Die Diskussion der Bildungszeitung hat gezeigt, dass in einigen Köpfen eine metaphysische Betrachtungsweise von „Demokratie“ und „Grundgesetz“ herumspukt; teilweise wird daraus sogar das Konstrukt der „Demokratie des Grundgesetzes“.

Widmen wir uns aber der Gegenposition. Die bürgerliche Demokratie entstand aus dem Bedürfnis der zur Herrschaft gelangten Bourgeoisie, ihre Interessen zu vereinheitlichen und durchzusetzen. Sie war Mittel zum Zweck. Gerade in dem Moment, in dem sie meinte, diese Demokratie anzuwenden, trat aber auch die Arbeiterklasse auf und vertrat eigene, der Bourgeoisie mehr und mehr antagonistisch gegenüberstehende Positionen zur Demokratie. Das Bürgertum hatte und hat selbstredend großes Interesse daran, seine Version von Demokratie als klassenneutral und damit als ewige Wahrheit darzustellen. Dem entgegenzutreten ist eine der Aufgaben der Bildungszeitung von Kommunisten.

Es ist festzuhalten: Das Grundgesetz hat Verfassungsrang. (Dass es sich nicht als Verfassungsdokument versteht, ist für die Argumentation hier nebensächlich.) Nach Lenin sind Verfassungen Schriftstücke, an denen man den erreichten Stand des Klassenkampfes und die Stärke der Hauptklassen ablesen kann. Das ist auch beim Grundgesetz der Fall. So sind darin mit den Grundrechten Fortschritte und antifaschistische Kerngedanken enthalten und mit dem Paragraphen139 sogar eine eindeutig antifaschistische Vorschrift. Gleichzeitig war das Grundgesetz der Beginn der Wiederaufrichtung des (west-)deutschen Imperialismus. Es enthält also auch Bestandteile, die der ständigen Aggression nach Osten folgen. Ein Beispiel dafür ist das juristisch als „ius sanguinis“ bezeichnete reaktionäre Recht darüber, wer Deutscher ist. In vielen anderen demokratischen Staaten gilt als Rechtsgrundsatz, dass wer auf dem Boden eines Landes lebt beziehungsweise dort geboren wurde, die Rechte eines Staatsbürgers erlangt. Der deutsche Imperialismus aber wollte im Osten nach Lebensraum suchen und bezog deswegen den Standpunkt, dass deutscher Staatsbürger derjenige sei, der deutschen Blutes beziehungsweise deutscher Herkunft von vor einigen Generationen sei.

Von welchem Grundgesetz reden wir eigentlich? Von dem von 1949 bei seiner Verabschiedung? Von dem von 1956 und der Wiederbewaffnung (16 Einzeländerungen)? Von dem der Einführung der undemokratischen 5-Prozent-Klausel für die Bundestagswahlen 1953? Von dem von 1968 und den Notstandsgesetzen (29 Änderungen)? Von dem Grundgesetz, in dem vom Recht auf Asyl fast nichts mehr übriggeblieben ist? Bislang gab es 52 Änderungen; 109 Artikel wurden geändert, neu hinzugefügt oder aufgehoben. Oder reden wir davon, dass sich dieses Parlament der parlamentarischen Demokratie in seiner Unfähigkeit bei der Bekämpfung der Pandemie selbst entmachtet?

Max Reimann gibt in seiner berühmten Rede die Antwort auf die Frage, gegen wen die antifaschistischen Bestandteile des Grundgesetzes verteidigt werden müssen: gegen „diejenigen, die es heute angenommen haben“. Damit waren die Mitglieder des parlamentarischen Rates gemeint als Vertreter der politischen Parteien, die – mit Ausnahme der KPD – alle auf den Positionen der Wiedererrichtung des deutschen Imperialismus standen. Gegen diese Tendenz der Restauration der Macht der Monopolherren, wobei die Spaltung Deutschlands der entscheidende Punkt war, richtete sich der Kampf der KPD bis 1949. Auch hier war der Kampf um eine Bodenreform, gegen die Fremdherrschaft und so weiter ein Kampf um die demokratische Aktivierung der Volksmassen gegen die Monopolherren. Der Kampf wird geführt gegen das Monopolkapital und seine politischen Vertreter, welcher politischen Partei sie auch angehören mögen.

Zu 70 Jahre Grundgesetz erschien in der „jungen Welt“ eine Artikelserie von Otto Köhler, die nun zusammengefasst als Broschüre mit dem Titel „Wer ist hier Verfassungsfeind?“ vorliegt. In dem Beitrag „Jetzt wird aber remilitarisiert“ (S. 11 folgende) wird gezeigt, dass die KPD bereits im Parlamentarischen Rat ganz genau strategisch einzuordnen wusste, was es zu verhindern galt: „Am Frieden arbeiteten sich damals immer noch die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates ab. Dem Abgeordneten Heinz Renner von der KPD (…) reichte es am 19. November 1948 nicht, dass ‚die Führung eines Angriffskrieges‘ untersagt werden sollte. Er wollte, dass die Formulierung ‚Der Krieg ist geächtet‘, wie sie in der Hessischen Verfassung stand, ausdrücklich ins Grundgesetz aufgenommen werde. Das wurde – gegen seine Stimme – abgelehnt. Renner wollte auch verhindern, dass der radikale Entwurf ‚Zur Kriegführung bestimmte Waffen dürfen weder hergestellt noch befördert oder in Verkehr gebracht werden‘ mit einer kleinen Einschränkung versehen werde. Wieder abgelehnt. Und so heißt es heute im Artikel 26, Absatz 2 gut praktikabel: ‚Zur Kriegführung bestimmte Waffen dürfen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden‘.“

Im weiteren Verlauf des Artikels verweist Otto Köhler darauf, dass der Krieg gegen Jugoslawien von Schröder und Fischer als „humanitäre Aktion“ geführt wurde. Im neuesten Grundgesetzkommentar von Helge Sodan heißt es, das sei „nicht zwingend völkerrechtswidrig“. Und weiter heißt es in diesem Kommentar: „Erst recht liegt kein Angriffskrieg vor, da es der humanitären Intervention an einem verwerflichen Charakter fehlt.“

Von welchem Grundgesetz und welchen demokratischen Rechten also reden wir? Das Grundgesetz war der bürgerlichen Klasse zu keiner Zeit heilig. Mit einer Haltung: „Demokratie Ja! Grundgesetz Ja! AfD Nein!“ kommen wir also nicht viel weiter. So ein Schematismus widerspricht unseren weltanschaulichen grundsätzlichen Positionen und hilft nicht für die aktuelle Lageeinschätzung. Die vielfach betriebene Fokussierung des antifaschistischen Kampfes auf den Kampf gegen die AfD ignoriert, dass der reaktionäre Staatsumbau nicht von dieser betrieben wird. Sie ignoriert, dass auch unter dem Mantel des Antifaschismus reaktionäre Maßnahmen von Regierungsseite durchgesetzt werden können. Somit kann es auch kein Entrinnen vor dem Verfassungsschutz und insbesondere seiner bayerischen Abteilung – Kurt Pätzold nennt sie „die Verhüterli in München“ – für diejenigen geben, die sich dem entgegenstellen.

Der Parteivorstand der DKP gab 1978 eine Broschüre heraus, die er „Kommunisten und das Grundgesetz“ nannte. Hier entwickelte er den Gedanken, dass sich die Positionierung der Kommunisten auf drei Stichpunkte bringen lasse: Die Kommunisten verteidigen die im Grundgesetz enthaltenen antifaschistisch-demokratischen Rechte der Werktätigen gegen den Versuch der Reaktion, diese abzuschaffen; sie kämpfen darüber hinaus um den Ausbau der demokratischen Rechte und sie kämpfen gegen Überbleibsel der faschistischen Ideologie.

Unsere Partei steht für die aktive und kämpferische Verteidigung jedes bürgerlich-demokratischen Rechts. Dabei machen wir deutlich, von wem die Angriffe auf die demokratischen Rechte – und ja: auch auf das Grundgesetz – kommen. Wir erklären unsere Positionierung für diesen Kampf aus dem Klassenauftrag, den wir haben. So wie es keine klassenneutrale Demokratie gibt, kann sie auch nicht klassenneutral verteidigt werden.

Autorenkollektiv der Bildungszeitung „Reaktionärer Staatsumbau“

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"Klassenneutral geht nicht", UZ vom 4. Dezember 2020



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